Interviews

„Als Erzieherin entdecke ich seit 40 Jahren Talente“


27. September 2021

Silvia van Zütphen ist Erzieherin aus Leidenschaft. Wenn sie 2024 in den Ruhestand geht, hat sie 45 Jahre in derselben Einrichtung in Moers gearbeitet. (Foto: Initiativkreis Ruhr)

Silvia van Zütphen findet: „Singen, spielen, tanzen, lachen: Das ist das ABC der Kindergartenkinder.“ Seit 41 Jahren ist sie Erzieherin in der Evangelischen Kita Katzbachstraße in Moers. Die 61-Jährige hat in ihrem Beruf viele Höhen und Tiefen erlebt. Nun steht ein weiteres Highlight bevor: Die Einrichtung nimmt zum ersten Mal an den TalentTagen Ruhr teil. Im Interview berichtet die Pädagogin, warum sie ihren Job auch heute noch liebt, wie sie sich ihren Ruhestand vorstellt und warum die Bildungsinitiative der TalentMetropole Ruhr für Kinder wichtig ist.

Frau van Zütphen, Sie sind nun seit 40 Jahren im Kindergarten Moers-Hochstraß als Erzieherin tätig – eine bewundernswerte Leistung. Hat es Sie nie gereizt, den Arbeitgeber zu wechseln?
Ich habe in diesem Kindergarten vor 41 Jahren mein Anerkennungsjahr gemacht. Anschließend habe ich übergangsweise für drei Monate eine Stelle als Kinderpflegerin  übernommen, bevor ich fest als Erzieherin eingestellt worden bin. Mir hat es hier als gebürtige Scherpenbergerin von Anfang an gut gefallen. Trotzdem habe ich nicht damit gerechnet, so lange bei einer Institution zu bleiben. Schließlich will man sich im Laufe seines Berufslebens ja verändern oder weiterentwickeln. Das ist mir in dieser Kita gut gelungen. Von 1987 bis 1998 habe ich den Kindergarten geleitet. Dann sind sowohl mein Mann als auch mein Vater zur selben Zeit krank geworden – und ich habe nach einer dreimonatigen Auszeit die Leitungsfunktion abgegeben und meine Stelle eine ganze Zeit lang reduziert. Aktuell arbeite ich wieder 34 Stunden pro Woche – und fühle mich damit sehr wohl. Der Kindergarten hat viele Höhen und Tiefen erlebt. Ich bin froh und stolz, bei vielem dabei gewesen zu sein.

Was bedeutet Ihnen der Beruf?
Sehr viel. Ich habe als Kind schon immer gesagt, dass ich später einmal mit den ganz Kleinen arbeiten möchte. Denn es hat mir schon in jungen Jahren Spaß gemacht, die Nachbarskinder zu versorgen. Eine Zeit lang hätte ich mir vorstellen können, auch Kinderkrankenschwester zu werden. Aber nach einem Praktikum im Kindergarten während der Schulzeit wusste ich: Das ist genau meine Welt. Die Kinder geben uns als Erzieherinnen und Erzieher unglaublich viel zurück und saugen permanent Sachen auf. Das begeistert mich auch nach 41 Jahren noch jeden Tag aufs Neue.

Im sogenannten Morgenkreis berichten die Kita-Kinder Silvia van Zütphen täglich spielerisch von ihren Alltagserlebnissen. (Fotos: Initiativkreis Ruhr)

Was hat sich der Beruf in 40 Jahren verändert?
Wir haben die Möglichkeit, die Kinder in ganz vielen Bereichen auf das Leben vorzubereiten und ihnen dabei zu helfen, selbstständig zu werden. Das ist Geschenk und Herausforderung zugleich. In meinen ersten Berufsjahren ging es fast ausschließlich darum, die ab 3-Jährigen zu beaufsichtigen. Die Eltern waren früher beruflich nicht so eingespannt und haben ihren Nachwuchs in den Kindergarten gegeben, damit er dort für ein paar Stunden spielerisch betreut wird. Pflegerische Tätigkeiten und vor allem der Aspekt der Miterziehung haben damals keine herausragende Rolle gespielt. Das hat sich mit dem stetigen Ausbau der Ganztagsbetreuung geändert. Zwischendurch habe ich deshalb immer mal wieder gedacht, dass meine Ausbildung für die Anforderungen gar nicht mehr ausreicht. Plötzlich standen Tätigkeiten wie Wickeln, Füttern und Anziehen, Qualitätsentwicklung, Bildungsdokumentationen, Sprachförderung im Vordergrund und die eigentliche Arbeit und Zeit mit den Kindern, sie gut auf das Leben vorzubereiten, fehlte mir ein bisschen. Mittlerweile ist das U3-Konzept gut ausgefeilt und wir alten Häsinnen und Hasen haben uns anpassen können. Heute kann ich sagen: Die altersgemischten Gruppen in unserem Kindergarten zeigen mir immer wieder, wie bereichernd diese Entwicklung ist. Die Kinder lernen unfassbar viel voneinander und stehen wie kaum jemand sonst für das Prinzip von Nehmen und Geben. Das hat mich immer wieder bestärkt, in dem Beruf zu bleiben.

Dennoch gilt Ihre Profession nicht als Traumjob. Vor allem der permanente Personalmangel macht vielen Institutionen zu schaffen. Wie sieht die Lage da bei Ihnen aus?
Ja, leider begleitet uns das Thema hier am Standort schon seit längerem. Uns fehlt auch aktuell in jeder der drei Gruppen eine feste dritte Kraft. Das erschwert natürlich, den Wünschen der Kinder gerecht zu werden. In voller Stärke könnten wir die Gruppen zum Beispiel viel einfacher nach Alter trennen und gezieltere Angebote machen – etwa mit den Kleinen Malen und Basteln und mit den Großen einen Ausflug machen. Wir Erzieherinnen können zudem kaum noch an Fortbildungen teilnehmen. Und auch das Angebot an die Eltern, zum Beispiel gemeinsame Grillnachmittage, Bastelaktionen oder Elternabende mit Referentinnen und Referenten zu veranstalten, ist auf ein Minimum geschrumpft. Die Corona-Pandemie hat diese Situation leider noch verschärft.

Wunsch: Den Beruf als Erzieherin oder Erzieher attraktiver machen

Im Bewegungsraum können sich die Kleinsten austoben.

Wie könnte man das ändern?
Diese Frage ist leider nicht leicht zu beantworten. Ich meine, der Erzieherberuf scheint nicht attraktiv genug zu sein und die finanzielle Unterstützung der Kommunen und Städte ist oftmals ein Problem. Auch wir überlegen aktuell, ob ein Trägerwechsel möglich und sinnvoll ist, um die Kirchengemeinde finanziell zu entlasten. Dabei haben wir in Moers-Hochstraß noch Glück, dass wir den Eltern ein großes Angebot mit vielen städtischen, konfessionellen und privaten Einrichtungen machen können und man so eine Wahl hat. Das ist nicht überall im Ruhrgebiet so möglich.

Was gehört zu Ihren Highlights des Tages?
Jeden Tag erlebt man kleine oder manchmal große Highlights im Umgang und bei der Entwicklung der Kinder in jeder Altersstufe. Besonders jetzt in der Zeit der Eingewöhnung, wenn die neuen Kinder Vertrauen zu uns aufbauen, mit den anderen Kindern Kontakt aufnehmen oder die „alten“ Kindergartenkinder die neuen miteinbeziehen und auch da schon Freundschaften geschlossen werden. Außerdem liebe ich die Gespräche am Wickeltisch. Denn wir haben immer wieder Kinder dabei, die in der Gruppe ganz wenig erzählen – aber am Wickeltisch steht der Mund dann nicht still. Ein Dreijähriger hat mir dort erst gestern erzählt, dass er zwei ältere Jungs aus der Gruppe gerne hat. Nun wollte er nach dem Wickeln unbedingt bei beiden nachfragen, ob es ihnen auch so geht. Das sind einfach schöne Momente, die ich sehr genieße.

Und trotzdem gibt es doch sicherlich Tage oder Phasen, an denen Sie an Ihre Grenzen stoßen?
Ja, wie in anderen Jobs eben auch. Vor den Sommerferien gab es einen Zeitpunkt, bei dem ich dachte: Das geht so nicht weiter. Nach fast anderthalb Jahren Arbeiten und Leben unter Corona-Bedingungen war einfach die Luft bei mir raus. Einige Kinder waren nicht ausgelastet, unruhig oder verunsichert. Vieles hat sich eher wie ein Gegeneinander und nicht wie ein Miteinander angefühlt. Das hat uns alle sehr belastet. Mittlerweile geht es in meiner Gruppe mit 20 Kindern aber wieder harmonisch zu: Viele Familien haben offenbar in ihren Sommerurlauben Kraft getankt, die Kinder sind zufriedener und die Lockerungen, die aktuell gelten, tun gut. Ich persönlich habe allerdings seit einiger Zeit mit meiner Gesundheit zu kämpfen. Nach jahrzehntelangem Sitzen auf Kinderstühlen, passende Sitzmöglichkeiten für uns Erzieher gibt es ja noch nicht so lange, ist mein Rücken eine Dauerbaustelle. Durch das viele Knien habe ich außerdem stark mit Arthrose zu kämpfen. Das alles raubt mir zwar manchmal die Kraft, aber ich freue mich trotzdem jeden Tag auf die Begegnungen mit den Kindern.

Bei den TalentTagen Ruhr, an denen Ihre Einrichtung in diesem Jahr zum ersten Mal teilnimmt, geht es darum, die Fähigkeiten der Kleinsten zu unterstützen. Wie gelingt Ihnen genau das im Kindergartenalltag?
Unsere Aufgabe ist es immer, Talente aus den Kindern heraus zu kitzeln und in Ruhe auf sie einzugehen. Dem einen liegt das Thema bauen am Herzen, der anderen liebt das Zeichnen. Andere Kinder wiederum sind einfach gerne draußen und suchen nach Insekten. Solche Vorlieben unterstützen wir gerne. Manchmal sind den Eltern die Talente ihrer Kinder auch nicht bewusst, dann geben wir unsere Eindrücke weiter. Erst kürzlich gab es ein Kind, das hier unglaublich gerne Musik gemacht hat. Seit kurzem kann es dieses Talent in der Musikschule ausleben. Positives bestärken ist das A und O. Denn die Kinder schauen sich vieles voneinander ab, sagen dann „Du kannst das besser“ und wollen aufgeben. Hier müssen wir eingreifen und sagen: „Bleib‘ dran. Ein anderer malt vielleicht das Haus besser, dafür kannst du ganz tolle Tiere malen.“  Insofern sind Initiativen wie die TalentTage Ruhr der TalentMetropole Ruhr unfassbar wertvoll und gewinnbringend. Die Kinder freuen sich schon sehr, daran teilzunehmen.

Über die Kita

Der evangelische Kindergarten Moers-Hochstraß wurde 1958 an der Katzbachstraße 22 eröffnet, damals boomte der Bergbau in Moers. Dem evangelischen Träger, der Kirchengemeinde Hochstraß, stellte die Rheinpreußen AG ein Grundstück zur Verfügung. 43 Kinder erlebten im Jahr 1958 den Start des Kindergartens. Auch Krisen kennt die Einrichtung an der Katzbachstraße. Beispielsweise 2011, als der Kindergarten  vor finanziellen Problemen stand. Dank des Einsatzes von Kirchengemeinde und Elternschaft konnte die Kita erhalten bleiben. 2013 erfolgte der Umbau zu einer modernen Einrichtung, die heute fast 60 Kinder im Alter von ein bis sechs Jahren besuchen.

Die Einrichtung macht zum ersten Mal bei den TalentTagen Ruhr mit. Die bundesweit einzigartige Bildungsreihe der TalentMetropole Ruhr vereint rund 500 Veranstaltungen und zeigt vom 22. September bis zum 2. Oktober, wo und wie Nachwuchsförderung in der Region gelingt.

Bildung ist im Ruhrgebiet der Schlüssel zur Integration

Zur Talentförderung gehört es immer mehr, auch den Umgang mit Neuen Medien zu forcieren. Wie stehen Sie zu dieser Entwicklung?
Man kann es negativ sehen und sagen: Die Technik hat viele Kinder gerade im motorischen Bereich ausgebremst. Am Anfang war es der Fernseher, dann Konsolen wie Nintendo und Gameboy und jetzt Laptops und Handys. Man kann es aber auch positiv belegen: Wir hatten im vergangenen Jahr ein Kita-Kind, das total an Raumfahrt interessiert war. Da haben wir öfters den Laptop rausgeholt und geschaut, wie das Thema etwa in der „Sendung mit der Maus“ erklärt und aufbereitet wird. Solche Lerneinheiten funktionieren wunderbar in Kleingruppen, etwa mit den Kindern, die noch am Nachmittag zur Betreuung bei uns sind. Ich bin ganz ehrlich: Ich habe mich lange geweigert, den PC in der Gruppe mit zu nutzen. Aber mittlerweile sehe ich, dass es allein schon deshalb wichtig ist, weil der Umgang mit Neuen Medien in der Grundschule heutzutage normal ist. Da ein gesundes Gefühl zu bekommen, wie intensiv man diese Medien nutzt, ist schon in der Kita sinnvoll. Das Buch muss natürlich weiterhin neben dem PC wertvoll bleiben. Und die Kinder sollen hier erfahren: PC hin oder her – manchmal macht es mehr Spaß, draußen in eine Pfütze zu springen.

Die Kinder sollen hier erfahren: PC hin oder her – manchmal macht es mehr Spaß, draußen in eine Pfütze zu springen.
2024 geht die Moerserin nach 45 Berufsjahren in den Ruhestand.

Sind die Kinder denn im Vergleich zu früher tatsächlich motorisch schlechter geworden?
Ich kann das nicht generell sagen, merke es aber immer wieder im Alltag: Ich habe vor kurzem das große Springseil ausgepackt und die Kinder durften sich ausprobieren. Für einige war es das erste Mal, weil die Eltern bislang nicht auf die Idee gekommen sind, dass ein Springseil den Nachwuchs reizen könnte. Das gehört zur Realität. Ich will aber auch betonen: Die meisten Kinder hier werden von ihren Eltern gut unterstützt. Viele gehen in einen Sportverein, können sich im eigenen Garten zuhause austoben und machen Ausflüge zu Fuß oder mit dem Rad. Diese Form der Förderung ist leider nicht in allen Teilen des Ruhrgebiets so ausgeprägt wie hier in Moers-Hochstraß.

Wie stellen Sie sich Ihren Ruhestand vor?
Am 1. September 2024 habe ich die 45 Jahre voll, dann gehe ich in den Ruhestand. Was kommt dann? Ich bin ein Familienmensch und wünsche mir sehr, bis dahin Oma zu sein. Außerdem liegt mit der Sport sehr am Herzen und ich möchte ihn gerne noch intensiver im Verein betreiben und als Mitglied im Stadtsportverband mitwirken. Mit meinem Mann und unserem Freundeskreis würde ich künftig gerne ausgiebige Städtetouren machen und noch ein bisschen von der Region und der Welt sehen. Auf diese Ausflüge und Urlaube freue ich mich sehr.

Und was glauben Sie, werden Sie als Rentnerin vermissen?
In jedem Fall nicht das Gefühl, einen Zeitplan einhalten zu müssen (lacht). Natürlich werde ich die Kinder und das fröhliche Lachen am Morgen vermissen. Ganz am Anfang meiner Ausbildung sagte meine damalige Chefin zu mir: „Singen, spielen, tanzen, lachen – das ist das ABC der Kindergartenkinder.“ Und genau das lebe ich seit nunmehr 41 Jahren jeden Tag aufs Neue. Ist doch klar, dass mir das fehlen wird!

Das Interview führte Jasmin Buck.

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