



Netzentdecker Hajo Schumacher
Mit den „Netzentdeckern“ hilft der bekannte Journalist Hajo Schumacher Bürgern, das Internet richtig zu entdecken. Er möchte auf kurzweilige, interaktive Weise den Menschen Anregungen und Erklärungen bieten, die sich als „digital immigrants“ gelegentlich im Online-Dschungel verlieren. „Wir wollen Antworten auf Fragen geben, die sich viele Menschen täglich stellen“, sagt Schumacher. „Wie sicher ist mein Passwort? Warum zocken die Kids so viel am Handy? Was machen eigentlich diese Algorithmen? Wie zukunftssicher ist mein Job noch?“ Die „Netzentdecker“ schaffen digitalen Durchblick. Sie sind ein Non-profit-Projekt, finanziert von der Brost-Stiftung in Essen, die Soziales, Kunst und Kultur im Ruhrgebiet fördert. Die Kolumne von Hajo Schumacher erscheint in verschiedenen Tageszeitungen und deren Online-Angeboten – und jetzt auch hier.
Kolumne
Aufstand für alle
09. November 2020




Das Digitale bedroht das deutsche Erfolgsmodell der sozialen Marktwirtschaft. Ludwig Erhard hatte nicht mit Facebook gerechnet. Der Wohlstand für alle ist in Gefahr.
Die Historiker, Ethnologen und Soziologen der Zukunft werden sich mit einer spannenden Frage beschäftigen: Wie konnte dieses merkwürdige Völkchen der Deutschen damals so lange, so stabil, so demokratisch existieren? Welche Bedingungen sorgten märchenhaft lange für Frieden und Wohlstand? Und warum machte die Digitalisierung einer der besten aller unvollkommenen Gesellschaften so schwer zu schaffen?
Die Wissenschaftler werden zunächst drei Erfolgsfaktoren ausmachen, die verknüpft sind und einander bedingen. Erstens: Auf den Trümmern von zwei angezettelten Weltkriegen und einer beispiellosen Diktatur mit anschließender Teilung war ein demokratisches Miteinander gewachsen, das auf Skepsis basierte, auf ständigem Reflektieren, Hinterfragen und Überprüfen. Aus der düsteren Geschichte war zweitens eine Verfassung hervorgegangen, die die auseinanderstrebenden Bedürfnisse Freiheit und Sicherheit klug integrierte. Drittens versöhnte die soziale Marktwirtschaft mit ihrem Schlachtruf „Wohlstand für alle“ die Kräfte des Kapitalismus mit dem Wunsch der Bürger nach Fairness und Teilhabe.
Heute dominiert der „Aufstand für alle“, die paradoxe Lust daran, ein bewährtes Erfolgsmodell zu erledigen.
Heute dominiert der „Aufstand für alle“, die paradoxe Lust daran, ein bewährtes Erfolgsmodell zu erledigen. Das war nicht immer so. Ein geradezu manisches Bemühen um gesellschaftliche, politische und ökonomische Balance hatte seit dem zweiten Weltkrieg für eine beispiellose Stabilität gesorgt, die Ölkrise und RAF-Terror, Kalten Krieg und Wiedervereinigung, Finanz- und Eurokrise sowie Corona vergleichsweise gelassen trotzte.
Die Historiker der Zukunft werden zugleich feststellen, dass die deutsche Stabilität nie ein Zustand war, sondern immer ein Prozess. Wie bei der Frisbeescheibe eine hohe Rotation für stabilen Flug sorgt, verdankte Deutschland seine Stabilität der permanenten Dynamik des Aushandelns auf allen Ebenen. Kompromisse sind harte, oft unsichtbare Arbeit.
Viele der widerstrebenden Energien, die in Deutschland bis heute ausgehandelt werden, begegnen sich in der Biografie von Ludwig Erhard: katholisch der Vater, evangelisch die Mutter, Polio mit zwei Jahren, Erster Weltkrieg an der Front. Erhard besuchte Volks- und Realschule und arbeitete im Einzelhandel, später studierte er und wurde Professor. Er, der Kaiser, Weimar, „Führer“ und Untergang erlebt hat, wusste konfessionelle, soziale, politische Gräben zu überbrücken. So befeuerte er Wiederaufbau und Wirtschaftswunder, indem er das brillante Paradox der sozialen Marktwirtschaft schuf – er versöhnte den ungezähmten Kapitalismus mit dem Streben der Menschen nach ökonomischer Sicherheit. Erhard verabscheute „soziale Untertanen“ ebenso wie Monopole, er schätzte eigenverantwortliche Menschen ebenso wie Wettbewerb.
Werte wie Verlässlichkeit, Expertise und Austausch, Kompromissbereitschaft, Besonnenheit und Ausdauer erodierten ebenso wie das Vertrauen in den Staat und sein Gewaltmonopol.
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts, so werden die Historiker der Zukunft feststellen, geriet das deutsche Erfolgsmodell erst unmerklich, dann immer offensichtlicher in Gefahr. Die aufkommende Digitaltechnologie veränderte Verhalten und Miteinander. Werte wie Verlässlichkeit, Expertise und Austausch, Kompromissbereitschaft, Besonnenheit und Ausdauer erodierten ebenso wie das Vertrauen in den Staat und sein Gewaltmonopol.
Mal zufällig, mal absichtsvoll zielten die neuen Technologien in den Maschinenraum der deutschen Stabilität. Das eigenverantwortliche Individuum entwickelte sich zum digitalen Untertanen, zur ausrechenbaren Konsummaschine, deren Affekte sich technisch stimulieren ließen. Sucht, Angst und Zerstreuung nahmen überhand, das Langfristige wurde dem schnellen Reiz geopfert, die überprüfbare Realität durch viele individuelle Glaubereien vernebelt. Eine durch die digitale Logik des Binären getriebene Polarisierung erschwerte Kompromisse.
So verschob sich die Machtbalance zwischen dem Individuum und globalen Konzernen. Zuverlässige Informationen verschwanden. Die Politik hatte zu spät kapiert, dass die soziale Marktwirtschaft um eine ökologische und eine digitale Komponente erweitert werden musste.
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