



Netzentdecker Hajo Schumacher
Mit den „Netzentdeckern“ hilft der bekannte Journalist Hajo Schumacher Bürgern, das Internet richtig zu entdecken. Er möchte auf kurzweilige, interaktive Weise den Menschen Anregungen und Erklärungen bieten, die sich als „digital immigrants“ gelegentlich im Online-Dschungel verlieren. „Wir wollen Antworten auf Fragen geben, die sich viele Menschen täglich stellen“, sagt Schumacher. „Wie sicher ist mein Passwort? Warum zocken die Kids so viel am Handy? Was machen eigentlich diese Algorithmen? Wie zukunftssicher ist mein Job noch?“ Die „Netzentdecker“ schaffen digitalen Durchblick. Sie sind ein Non-profit-Projekt, finanziert von der Brost-Stiftung in Essen, die Soziales, Kunst und Kultur im Ruhrgebiet fördert. Die Kolumne von Hajo Schumacher erscheint in verschiedenen Tageszeitungen und deren Online-Angeboten – und jetzt auch hier.
Kolumne
Buchhändler umarmen
27. November 2020




Wir klagen über öde Innenstädte und helfen beim Veröden zugleich kräftig mit. Unser Kolumnist fordert eine Rote Liste für bedrohte Ladenarten.
Früher, als ich gerade in Hamburg wohnte und hemmungslos rauchte, da wurde ich von Einheimischen zurechtgewiesen, sobald ich die Zigarette an einer Kerze entzündete. „Jetzt stirbt ein Seemann!“. Was sollte der Spruch? Ganz einfach. Früher, als die Seeleute winters an Land waren und nichts verdienten, schlugen sie sich oft mit dem Herstellen und Verkaufen von Zündhölzern durch. Es ging also nicht um Voodoo, sondern um konkretes soziales Handeln. Wer eine bestehende Flamme nutzte und kein Streichholz, brachte einen Seemann um seinen ohnehin kargen Lohn.
Die moderne Variante dieser Weisheit könnte lauten: Wer sein Buch bei einem Online-Händler kauft, hat eine Buchhändlerin auf dem Gewissen. Drastisch, aber nicht ganz falsch. Denn gut 20 Prozent der in Deutschland verkauften Bücher werden von Amazon frei Haus geliefert. Praktisch, aber heikel. Denn dem stationären Buchhandel entgehen im Jahr so etwa 300 Millionen Euro. Weil wir, die Kunden, es so wollen. Bei „motzbuch“ etwa, einem Buchladen hier in Berlin-Schöneberg, hängt ein handgeschriebener Zettel im Schaufenster: „Das Geschäft wird zum Jahresende aufgegeben.“ Gründe mag es viele geben, dennoch nagt das schlechte Gewissen: Hätte ich all die Bücher, die ich je online bestellte, beim sympathisch-schrulligen Motzbuchhändler gekauft, wo ich ohnehin jeden Tag vorbeiradle, wäre ich um keinen Cent ärmer, aber meine Gegend womöglich um einen guten Laden reicher geblieben. Amazon-Chef Jeff Bezos, mit fast 200 Milliarden Dollar Vermögen reichster Mann der Welt, hätte es auch verschmerzt.
Viele Buchläden sind nicht nur Geschäfte, sondern Kulturträger, ohne die es das Verb „stöbern“ vermutlich gar nicht gäbe, das diesen wunderbaren Zustand schildert, wenn wir zwischen Stapeln die Zeit vergessen.
Buchhandelnde arbeiten ja selten nur des Geldes wegen. Viele von ihnen stehen aus Leidenschaft 60 Stunden die Woche hinterm Tresen: Sie lieben Literatur, das Werden und Vergehen von Autoren und Stilen, Lesungen und Events. Was Druck- und Papiertechnik an Innovationen erlebt haben, ist mit dem digitalen Fortschritt durchaus vergleichbar. Viele Buchläden sind nicht nur Geschäfte, sondern Kulturträger, ohne die es das Verb „stöbern“ vermutlich gar nicht gäbe, das diesen wunderbaren Zustand schildert, wenn wir zwischen Stapeln die Zeit vergessen. Der Buchladen ist nun mal das Süßigkeitengeschäft des deutschen Bildungsbürgers. Und gehört deswegen auf die Liste der bedrohten Ladenarten.
Natürlich kann man es für Schläue halten, sich über Stunden im Buchladen zu verlieren, um dann bei Amazon zu bestellen. Aber tatsächlich bedeutet derlei Verhalten einen Schuss ins eigene Knie: Wer sich über das Veröden der Innenstädte aufregt, kann aktiv zum Erhalt vielfältiger Läden beitragen und zwar einfach und preisneutral: dort kaufen. Geliefert wird von den meisten Buchhändlern inzwischen auch, etwa über https://www.genialokal.de/.
Es gehört zu den hartnäckigen Mythen, dass im digitalen Zeitalter viele Angebote kostenlos seien.
Es gehört zu den hartnäckigen Mythen, dass im digitalen Zeitalter viele Angebote kostenlos seien. Doch warum verdient Amazon, obgleich die Lieferung frei Haus erfolgt? Ganz einfach: Die Marge, aus der der Buchhändler Miete, Strom und qualifiziertes Personal bezahlen muss, finanziert bei Amazon Lagern und Liefern. Der US-Konzern lässt Menschen oft zu prekären Bedingungen arbeiten und betreibt riesige Lager in Osteuropa. Seit Jahren wickelt Amazon angeblich die Hälfte seines Vertriebs nach Deutschland über Polen ab, deutsche Verlage und Zwischenhändler wiederum müssen ihre Ware dorthin schaffen, auf eigene Kosten. Amazon freut sich über niedrige Lohnkosten, gefügige Gewerkschaften und ermäßigte Steuern. Dafür fällt die Klimabilanz mies aus. „Bei der Lieferung nach Frankfurt am Main legt ein Buch via Amazon in Polen fast zehnmal so viele Kilometer zurück, wie bei Lieferung zur Buchhandlung vor Ort“, hat der Börsenverein des Deutschen Buchhandels errechnet. Jeder Euro im Weihnachts-Shopping, sagt der junge SPD-Star Kevin Kühnert, entscheide mit darüber, welche Arbeitsplätze und welche Einkaufsstraßen wir unseren Kindern hinterlassen.
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