„Die Lehren aus Corona“
Initiativkreis im Interview
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Corona im Ruhrgebiet: Gemeinsam durch die Krise
02. Juni 2021




In der Interview-Reihe „Die Lehren aus Corona“ wollten wir von Persönlichkeiten aus unserem Netzwerk wissen, welche Schlüsse sich aus der Pandemie ziehen lassen, ob die Krise auch Chancen mit sich gebracht hat und was speziell im Ruhrgebiet besonders eindrücklich war.
Gefragt nach den Stärken und Schwächen, die die Region in der Krise offenbart hat, lobten ausnahmslos alle Interview-Partner die Krisen-Resilienz und Solidarität der Menschen. „Das Ruhrgebiet zeichnet sich für mich seit jeher durch eine starke eigene Identität und einen damit verbundenen Zusammenhalt der Menschen untereinander aus. So etwas hilft in Krisenzeiten sehr“, sagte etwa Wolfgang Langhoff, Vorstandsvorsitzender von BP Europa SE. „Wir haben zu Beginn der Krise schnell die Produktion von Desinfektionsmitteln aufgenommen“, nannte Christian Kullmann ein konkretes Beispiel der Unterstützung. „Das hat nur funktioniert, weil es ein Netzwerk aus vielen pragmatisch helfenden Institutionen und Personen möglich machte“, ist Kullmann überzeugt. „Solidarität gibt es hier noch immer, und wir haben in der Pandemie gesehen, wie schnell sich die Menschen im Ruhrgebiet auf die neue Lage einstellen konnten“, meint auch Andrea Schmidt-Rumposch, Pflegedirektorin der Universitätsmedizin Essen. „Diese Haltung herrschte auch in unseren Teams vor; viele ehemalige Pflegefachpersonen und Medizinstudierende haben sich gemeldet, um uns bei der Versorgung zu unterstützen“, erzählte sie.
Dieser ‚soziale Kampf‘ gegen Corona, der nur selten die Schlagzeilen füllt, wird im Ruhrgebiet sehr entschieden geführt.
Doch auch die andere Seite der Medaille kam zum Vorschein. „Eine Schwäche, die sich – allerdings nicht nur im Ruhrgebiet – durch Corona manifestiert hat, ist die mehr als schleppende Digitalisierung unserer Schulen“, sagte Bernd Tönjes, Vorstandsvorsitzender der RAG-Stiftung. „Milliarden für Hardware zur Verfügung zu stellen reicht nicht. Denn die beste Hardware nützt nichts, wenn es kein WLAN gibt.“ Tönjes sieht die Vergrößerung der sozialen Schere als weiteres Problem. Das hat auch „Ruhrbischof“ Franz-Josef Overbeck beobachtet. „Je länger die Pandemie andauert, desto mehr droht sich die soziale Spaltung in unserer Gesellschaft weiter zu verschärfen“, fürchtet er. „Andererseits erlebe ich, mit wie viel Leidenschaft und Kreativität sich Menschen in den unterschiedlichsten Institutionen engagieren, damit genau das nicht passiert. Dieser ‚soziale Kampf‘ gegen Corona, der nur selten die Schlagzeilen füllt, wird im Ruhrgebiet sehr entschieden geführt.“
Besondere Verantwortung von Unternehmen
Einig waren sich die Befragten darin, dass Unternehmen in Krisenzeiten eine besondere Verantwortung für ihre Belegschaft und die Gesellschaft haben. Die Gesundheit von Mitarbeitern zu schützen stand für alle Befragten an erster Stelle. Bei thyssenkrupp hätten deshalb zeitweise mehr als 30.000 Kolleginnen und Kollegen mit Büroarbeitsplätzen von zu Hause gearbeitet, erklärte Klaus Keysberg, Finanzvorstand des Industriekonzerns. Ihm war wichtig, zu betonen, dass die Fürsorgepflicht nicht am Arbeitsplatz aufhört. „Wir haben auch vielfältige Beratungsangebote eingerichtet – für medizinische Rückfragen etwa wurde eine telefonische Hotline ins Leben gerufen. Aber die Pandemie ist auch eine psychische Belastung, hier helfen wir mit Unterstützungsangeboten ebenfalls.“ Wolfang Langhoff hält es für entscheidend, dass ausreichend getestet wird. „Wir unterstützen ausdrücklich eine Selbstverpflichtung der Wirtschaft zur Bekämpfung der Corona-Pandemie durch Schnell- und Selbsttests für Mitarbeitende als Teil der Strategie von Bund und Ländern“, sagte der BP-Chef.
Daneben sei es wichtig, eine klare Linie vorzugeben. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter müssten auf dem Laufenden gehalten werden, wie das Unternehmen durch die Krise kommt und wie es um das Geschäft aussieht, sagte Sabine Loos. Gesprächsbereitschaft zu signalisieren, sei dabei essentiell findet die Hauptgeschäftsführerin der Westfalenhallen Dortmund.
Schub für die Digitalisierung
Die Befragten wagten auch einen Ausblick, was Corona auf Zeit für Wirtschaft und Gesellschaft bedeuten wird. „Sicher wird nicht alles innerhalb kurzer Zeit wieder so sein wie bisher. Ich könnte mir aber gut vorstellen, dass es beim Konsum durchaus einen gewissen Nachholeffekt gibt“, vermutet Wolfgang Langhoff. „Die wirtschaftliche Lage im Revier war bereits vor der Corona-Krise angespannt. Neue Ansätze, die Attraktivität des Ruhrgebiets als Wirtschafts- und Lebensstandort zu erhöhen, werden nun in den Fokus gelangen“, sagte Elke van Arnheim, Rechtsanwältin und Notarin bei Kümmerlein in Essen. „Dem Ausbau der Bildungslandschaft und der Entwicklung einer Gründerszene kommt besondere Relevanz zu“, meint die Juristin. „Spezielle Herausforderungen finden sich in der Ausdifferenzierung des Gesundheitssystems – nicht nur im Ruhrgebiet“, ist Pflegedirektorin Andrea Schmidt-Rumposch überzeugt. „Ein bundesweiter Fachkräftemangel und die kritische Lage der Pflege waren schon vor Corona bekannt. Neben der vorhandenen gesellschaftlichen Anerkennung ist daher die Politik gefragt, die bestehenden Strukturen zu verbessern.“
Stichwort Digitalisierung und neue Formen der Zusammenarbeit. Dort, wo es immer schon Bereitschaft zum Wandel gegeben hat, ist das eine Chance.
In den vergangenen Jahren habe sich das Ruhrgebiet stark verändert und sei mehr und mehr zu einem modernen Industriestandort geworden. Die Pandemie könne nun den Impuls für einen schnelleren Wandel setzen, so thyssenkrupp-Vorstand Keysberg. „Stichwort Digitalisierung und neue Formen der Zusammenarbeit. Dort, wo es immer schon Bereitschaft zum Wandel gegeben hat, ist das eine Chance.“ Das sieht auch Juristin van Arnheim so: „Derzeit in aller Munde sind die enorme Entwicklung der Digitalisierung infolge der Pandemie und die damit verbundenen Chancen für die Arbeitswelt. Es ist erstaunlich, wie schnell noch vor einem Jahr für undenkbar gehaltene Arbeitsstrukturen außerhalb unternehmenseigener Räumlichkeiten aufgebaut werden konnten“, sagte sie. Doch auch die Nachteile dessen dürften nicht außer Acht gelassen werden. Auf Dauer führe Teamarbeit zu mehr Effizienz und Inspiration.
Es ist Geduld gefragt
„Das Ruhrgebiet konnte sich als Region schon immer gut an verschiedene Ereignisse anpassen. So wird es auch mit der aktuellen Krise laufen“, glaubt Sabine Loos. Auch Christian Kullmann zeigte sich positiv gestimmt: „Das vielfach ausgerufene Ende der Globalisierung infolge der Corona-Krise sehe ich nicht“, erklärte der Evonik-Chef. Die Probleme vieler Unternehmen lägen in den Lieferketten und Absatzmärkten, nicht in der globalisierten Produktion. Er gehe eher davon aus, dass sich Firmen infolge der Krise noch internationaler aufstellen werden, um auch in krisenhaften Lagen ihre jeweiligen Kunden bedienen zu können. „Die Wirtschaft wird eine ganze Zeit lang brauchen, bis sie sich von der Krise erholt hat“, ist sich RAG-Stiftungs-Chef Tönjes sicher. „Es kommt dabei natürlich darauf an, wie lange und in welcher Intensität einschränkende Maßnahmen noch aufrechterhalten werden müssen.“
Sorgen bereiten dabei jene, die die Bedrohung durch das Virus wider jede Vernunft leugnen und nicht dazu bereit sind, die Maßnahmen solidarisch mitzutragen.
In jedem Falle sei Geduld gefragt. Das gilt im Übrigen auch für das menschliche Miteinander. „Für die Bewältigung der Corona-Pandemie wird häufig das Bild des Marathonlaufs bemüht. Der Vergleich hinkt ein wenig, denn niemand kann mit Gewissheit sagen, wie viele Kilometer wir noch vor uns haben“, erinnerte Bischof Overbeck. Diese Unsicherheit auszuhalten, sei für viele Menschen sehr belastend. Vertrauen in die politisch Handelnden schließe freilich einen breiten und kontroversen gesellschaftlichen Diskurs nicht aus, sagte er. Sorgen bereiten ihm dabei allerdings jene, die die Bedrohung durch das Virus leugnen und nicht dazu bereit seien, Maßnahmen solidarisch mitzutragen.
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