Kolumnist Hajo Schumacher (Foto: Annette Hauschild/OSTKREUZ)

Netzentdecker Hajo Schumacher


Mit den „Netzentdeckern“ hilft der bekannte Journalist Hajo Schumacher Bürgern, das Internet richtig zu entdecken. Er möchte auf kurzweilige, interaktive Weise den Menschen Anregungen und Erklärungen bieten, die sich als „digital immigrants“ gelegentlich im Online-Dschungel verlieren. „Wir wollen Antworten auf Fragen geben, die sich viele Menschen täglich stellen“, sagt Schumacher. „Wie sicher ist mein Passwort? Warum zocken die Kids so viel am Handy? Was machen eigentlich diese Algorithmen? Wie zukunftssicher ist mein Job noch?“ Die „Netzentdecker“ schaffen digitalen Durchblick. Sie sind ein Non-profit-Projekt, finanziert von der Brost-Stiftung in Essen, die Soziales, Kunst und Kultur im Ruhrgebiet fördert. Die Kolumne von Hajo Schumacher erscheint in verschiedenen Tageszeitungen und deren Online-Angeboten – und jetzt auch hier.

Kolumne

Das Ende des Geheimtipps


31. Juli 2020

Urlaub? Das ist doch diese Herdengeschichte? Corona birgt die Chance, die Überraschung zurück ins Leben zu bringen. Und einen wirklich gelungenen Wildschwein-Burger.

Es geschah in jener märchenhaften Zeit, als das große C noch nicht unser Leben diktierte. Reisen, dachten wir, sei das große Abenteuer voller Überraschungen. Das war schon damals falsch. Reisen, das war ein Abhaken von Fotogelegenheiten. Zum Beispiel in Marrakesch. Ich blickte möglichst unauffällig auf mein Smartphone, als ich über den Basar streunte. Ich wollte zu dem blinkenden roten Punkt, zu diesem Imbiss mit seinem legendären Lamm-Schawarma, von dem der junge Rezeptionist verschwörerisch geschwärmt hatte. Absoluter Geheimtipp, hatte er gesagt. „Geheimtipp“ ist ein Zauberwort für altmodische Urlauber wie mich. Ich glaube unverdrossen an überraschende Entdeckungen in fremden Ländern, an Orte, die vor mir nie ein Tourist gesehen hat, wo handwerklich hochbegabte Einheimische mit ökologisch korrekten Zutaten aus der Region erstklassige Waren zu kleinen Preisen anfertigen, wo entschleunigte Menschen mich mit landestypischer Herzlichkeit empfangen, ohne mich melken zu wollen.

Je näher mich mein Smartphone dem sagenumwobenen Imbiss brachte, desto häufiger sah ich andere Touristen, die den Kopf ebenfalls über ihr Smartphone gebeugt trugen. Wie von einem unsichtbaren Großmagneten angezogen, strebten sie aus allen Himmelsrichtungen auf eine enge Gasse zu. Tatsächlich, da war er, der Geheimtipp, schon von Weitem zu erkennen an der langen Schlange, in der Touristen aus allen Gegenden der Welt geduldig warteten, um sich mit angesagtem Lammbrötchen für Instagram zu fotografieren. Enttäuschung, schon wieder. Mit der Digitalisierung hat sich das Ferienmachen dramatisch verändert.

Jeder noch so kleine Geheimtipp auf der hinterletzten Molukken-Insel spricht sich in Echtzeit via Reiseblogger oder TripAdvisor herum, weshalb es kein Geheimtipp mehr ist, sondern die Simulation eines solchen.

Grundsätzlich ist alles öffentlich in Digitalien. Deswegen schieben sich immer mehr Menschen an die immer dieselben Orte, während die Einheimischen dort sich alle Mühe geben, die Erwartungen der Touristen an Authentizität zu erfüllen und dabei möglichst instagrammabel auszusehen. Nur was fotografiert und gepostet wurde, ist real. Großes globales Theater: Reisende wollen die Illusion von heiler, edler, einfacher, sauberer und überschaubar fremder Welt, die Bewohner stellen sie dar. Dafür wird bezahlt. Das ist fair. Aber mit Humboldts Idee vom Reisen als Entdecken hat dieses durchinszenierte und zufallsfreie Abhaken von Orten wenig zu tun. Mit Google Maps gefunden, mit dem Smartphone geknipst, gepostet, nächste Station bitte.

Der digitale Fortschritt plus weltweiter Flatrate für unsere Endgeräte hat die Überraschung aus unseren Leben vertrieben. Auch der letzte indigene Erdenbewohner ist leicht zu finden und jederzeit zu kontaktieren. Er kennt die Bedürfnisse der Besucher, erfüllt sie gegen eine Gebühr und bekommt dafür eine Sternchenbewertung.

Das Phänomen der entzauberten Überraschung reicht vom Hotelzimmer über handgefertigte Amulette bis eben zum marokkanischen Imbiss. Das Angebot wird optimal fotografiert und überschwänglich beschrieben bis knapp an die Grenze zur Übertreibung. Bewertungen geben Aufschluss, ob das Versprochene in der Realität auch geliefert wird. Alles unter Kontrolle, garantiert überraschungsfrei.

Die größten Abenteuer, kein Quatsch, bieten derzeit Gegenden, die digital noch nicht kolonialisiert worden sind. Brandenburg zum Beispiel. Neulich sind wir ohne Smartphone auf einem Wanderweg bei Angermünde durch einen der größten Buchenwälder Europas gestiefelt, haben eine verwunschene Brennerei entdeckt und den ultimativen Wildschwein-Burger (mit Gorgonzola): Wo? Wird nicht verraten. Selber finden. Guter Urlaub braucht Überraschungen.

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