Kolumne
Das Übergangssystem in der Pandemie: Von unübersichtlich zu unsichtbar
06. September 2022




Die Corona-Pandemie hat zahlreiche Lücken im Bildungssystem aufgezeigt. Doch auch der Übergang in das Berufsleben gestaltet sich schwierig. Raphael Karrasch ist Managing Director der JOBLINGE im Ruhrgebiet und setzt mit seinem Programm genau dort an. Ein Kommentar.
Im Jahr 2021/22 blieben vier von zehn Ausbildungsstellen unbesetzt. Diese Zahl des Instituts der deutschen Wirtschaft aus dem April überraschte genauso wenig, wie der reflexartige Aufschrei aus den Unternehmen, es mangele an geeigneten Bewerber:innen. Doch bemängelten viele Unternehmen bis vor kurzem noch die „Qualität der Bewerber:innen”, bleiben Bewerbungen heute zum Teil gänzlich aus. Die Demographie und ausgefallene Berufsorientierung in den Schulen während Corona sind nur zwei Gründe für den Rückgang. Eigentlich könnte man vermuten, dass die vielen unbesetzten Stellen und der Fachkräftebedarf eine gute Ausgangslage für Ausbildungssuchende darstellen – sind sie aber nicht. Und das, obwohl es doch auch nach der Schule reichlich Unterstützung durch das Übergangssystem der Bundesagentur für Arbeit (BA) gibt.
In einer Studie des Bundesinstituts für Berufsbildung urteilten bereits 2011 89% von 550 befragten Ausbildungsexperten, dass der Einsatz der finanziellen Mittel nicht effektiv erfolgt. Zwar lange her, doch stiegen die Kosten bei gleichbleibendem Maßnahmeangebot laut Autorengruppe Bildungsberichterstattung von 4,3 Milliarden Euro in 2010 auf ca. 5-7 Mrd. in 2018. Lediglich ein Drittel der Teilnehmenden beginnt im Anschluss eine betriebliche Ausbildung. Je länger sich ein Jugendlicher in Übergangsmaßnahmen befindet, desto deutlicher sinkt seine Wahrscheinlichkeit, einen Ausbildungsplatz zu finden. Das System war also bereits vor Corona teuer und inneffizient – was konnte es also in der Pandemie leisten?




Eine Sprecherin des Wirtschaftsministeriums in Hessen wird im Juni 2022 in der dpa wie folgt zitiert: Die Herausforderung für die berufliche Ausbildung liegt derzeit vor allem in rückläufigen Bewerberzahlen und dieses Phänomen hat sich durch ausgefallene Maßnahmen zur Berufsorientierung während der Pandemie verstärkt. Doch Angebote sind nicht einfach ausgefallen, sondern schlichtweg nicht ins Digitale transferiert worden, die Berufsberatung der BA eingeschlossen. Frank Martin von der Regionaldirektion der BA in Hessen schilderte kürzlich in der Tagesschau: „Die Berufsberaterinnen und Berater tun sich derzeit schwer, Jugendliche mit Informationen zu erreichen.“ DERZEIT? Der Bericht ist vom Sommer 2022, nicht 2020! Seit zwei Jahren haben die Berufsberatungen der BA den Kontakt zu vielen Kund:innen verloren und wundern sich jetzt, dass Ausbildungsstellen unbesetzt bleiben. „Glücklicherweise starten jetzt viele Angebote wieder", sagt Martin. Nach zwei Jahren eher ein Armutszeugnis!
Nur einzelne Anbieter wie JOBLINGE haben den Umstieg geschafft und mit innovativen und verstärkt digitalen Formaten Jugendliche wie Unternehmen aktiviert. JOBLINGE hat in den vergangenen zwei Jahren trotz aller Widrigkeiten viele Jugendliche erreicht, die sonst durch das lückenhafte, beziehungsweise nicht vorhandene Netz gefallen wären. Junge Menschen wurden auf unsere Kosten mit Technik ausgestattet und von digitalem Konsum zur Anwendung befähigt – technischer Support eingeschlossen. Dienst am Nächsten? Sicherlich, aber genauso Dienst an unserem Unternehmensnetzwerk, das dringend Nachwuchskräfte benötigt.
Obwohl die Zuführung durch unsere öffentlichen Auftraggeber schwierig war, konnten wir bei JOBLINGE über 80 Prozent unserer Teilnehmerplatzkapazitäten besetzen. Ganz einfach, indem wir die jungen Menschen in den sozialen Medien, auf der Straße oder in Shopping Malls erreicht haben. Während Jobcenter & Co. Jugendliche noch suchen, wissen wir: Sie waren und sind noch da – nur müssen wir sie anders erreichen. Mit agilen, digitalen Formaten war es bei JOBLINGE möglich, Jugendliche und Unternehmen zu matchen: Digitale Jobmessen und Speeddatings sind bereits seit Herbst 2020 an der Tagesordnung – anschließende Praktika nicht ausgeschlossen, Ausbildungsaufnahmen in 70 Prozent der Fälle die Regel.
Deshalb ist es essenziell, junge Menschen nicht nur zu alternativen Berufen zu beraten, sondern sie mit Verfahren wie „Personal Branding“ zu befähigen, überhaupt eine fundierte Entscheidung zu treffen.
Zur Wahrheit gehört auch, dass Matching mehr leisten muss, als nur offene Stellen und Bewerber:innen zusammenzubringen. Laut statista bevorzugt ein Großteil der Jugendlichen die gleichen Berufe wie vor fast 20 Jahren. Wenn sich alle in Unkenntnis der über 300 Ausbildungsberufe nur auf die „Top Ten“-Berufe stürzen, bleibt nicht aus, dass viele bei einem begrenzten Angebot an Ausbildungsstellen auf der Strecke bleiben. Ganz abgesehen von denen, die noch gar nicht wissen, was sie machen wollen.
Deshalb ist es essenziell, junge Menschen nicht nur zu alternativen Berufen zu beraten, sondern sie mit Verfahren wie „Personal Branding“ zu befähigen, überhaupt eine fundierte Entscheidung zu treffen. Jugendliche müssen dafür mit uns vermeintlich einfache Fragen beantworten wie: „Was ist mir wichtig?“, „Wofür stehe ich?“, „Was sind meine Werte?“, „Was sind meine Ziele?“. Wenn sich dann auch noch die suchenden Unternehmen offen zeigen, nicht nur auf das Zeugnis zu schauen, sondern echte Chancen in der Praxis zu geben, haben wir einen wichtigen Beitrag zur Fachkräftesicherung geleistet.
Bei JOBLINGE verlassen circa 50 Prozent der Teilnehmenden das Programm mit einem anderen Beruf als dem ursprünglichen Wunschberuf. Dass fast 90 Prozent der JOBLINGE-Alumni auch ein halbes Jahr nach Ausbildungsstart noch in der Ausbildung sind, zeigt, dass wir mit unserer Vorgehensweise und einer flankierenden Ausbildungsbegleitung, die wir pro bono anbieten, nicht so schlecht liegen.
Ist das Übergangssystem ein Auslaufmodell?
Die Förderlogik der BA basiert noch immer zu großen Teilen auf einer Inputfinanzierung von (während Corona großteils unbesetzten) Teilnehmerplätzen und nicht auf der tatsächlichen Vermittlung. Ein System, dass junge Menschen kaum noch erreicht und sich nicht am Erfolg misst, ist kaum tragbar und gefährdet neben dem individuellen Fortkommen der Jugendlichen, massiv die Wirtschaft. Denn eins wird immer deutlicher: Für die Fachkräftesicherung brauchen wir jeden Kopf! Setzte das Übergangssystem zukünftig verstärkt auf eine Impactfinanzierung, würde dies innovative Lösungsansätze fördern. Die Finanzierung nachhaltiger Vermittlung nicht der Betreuung muss im Vordergrund stehen. Das Übergangssystem ist wichtig und hat seine Berechtigung, doch muss es den neuen Herausforderungen disruptiv entgegentreten. Weniger Formalismus und mehr social Business.
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