Interviews
Notfalls auch ohne Publikum: „Die Ruhrfestspiele sollen Lebensfreude vermitteln“
30. April 2021




Die Ruhrfestspiele Recklinghausen feiern trotz Corona-Pandemie ihr 75. Jubiläum. Sie finden vom 1. Mai bis zum 20. Juni statt. Geplant sind drei Festival-Szenarien mit Veranstaltungen, die live, digital und in hybrider Form umgesetzt werden können. Im Interview erklärt Olaf Kröck, Intendant der Ruhrfestspiele, welche Botschaft er mit seinem Team setzen möchte. „Wir wollen in diesen Zeiten vermitteln: Hier ist ein Angebot, das Lebensfreude vermittelt, das bunt ist und gleichzeitig Angebote zu einer inhaltlichen Auseinandersetzung macht. Diesen Lust-Momenten kann Kunst in Corona-Zeiten Raum geben."
Die Ruhrfestspiele sind das älteste und zugleich eines der größten und renommiertesten Theaterfestivals Europas. Sie entstanden, weil Hamburger Theaterleute im harten Nachkriegswinter 1945/46 ins Ruhrgebiet aufbrachen, um dort um Kohlen für ihre Theater zu bitten. Beeindruckt von der Hilfsbereitschaft der Bergleute, bedankten sie sich im folgenden Sommer mit einem Gastspiel. Nach dieser Initialzündung im Gründungsjahr 1946 brachten die Stadt Recklinghausen und der Deutsche Gewerkschaftsbund die Ruhrfestspiele auf den Weg. 1965 bezog das Festival sein eigenes Haus im Stadtgarten in Recklinghausen. In diesem Jahr feiert es sein 75-jähriges Jubiläum. Zum Sponsorenkreis gehören auch Mitglieder des Initiativkreises Ruhr.
2019 hat Olaf Kröck die Leitung der Ruhrfestspiele übernommen – mit Begeisterung und großem Engagement, wie er sagt. Die Region sei ihm schon seit langem vertraut. Vor dem Wechsel nach Recklinghausen hat er acht Jahre am Schauspielhaus Bochum gearbeitet, zunächst als Chefdramaturg und dann als Intendant. Kultur und Kunst – das sei für ihn ein Stück Weltbeschreibung. Auch deshalb steht das Jubiläumsfestival unter dem Motto „Utopie und Unruhe“. 90 Produktionen sollen in rund 210 Veranstaltungen zur Aufführung kommen. Wir haben Olaf Kröck danach gefragt, wie er die Festivalbesucher in Zeiten der Corona-Pandemie mit (digitalen) Angeboten begeistern will.




Herr Kröck, wie ist es den Kulturschaffenden Ihrer Einschätzung nach seit Ausbruch der Corona-Pandemie ergangen?
Sehr bewegt, denn viele Künstlerinnen und Künstler können schon lange nicht mehr richtig ihren Beruf ausüben. Die Pandemie trifft alle Bereiche: Theater, Oper, Tanz, Neuer Zirkus, Film, Konzert bis zur Kleinkunst. Je länger die Pandemie dauert, umso schwieriger wird es. Trotzdem gibt es keinen Grund, den Kopf in den Sand zu stecken. Das Besondere an Kunstschaffenden ist doch, dass sie kreative Menschen sind. Viele haben Wege gefunden, ihre Berufung trotz aller Widrigkeiten zu praktizieren – vom Balkon- und Wohnzimmerkonzerten bis zu guten Digitalisierungsstrategien. Ich kenne auch Schauspielerinnen und Schauspieler, die das Genre gewechselt und Bücher geschrieben haben. Insgesamt kann man sagen: Die Künstlerinnen und Künstler, mit denen wir arbeiten, – und wir sprechen hier von vielen Hunderten – haben in den vergangenen Monaten immer gezeigt, dass sie bei der Bewältigung der Krise mitdenken und an ihr mitarbeiten wollen. Aber sie möchten natürlich endlich wieder auf die Bühne vor „ihr“ Publikum.
Wie bewerten Sie die Rolle der Politik während der Corona-Krise mit Blick auf Unterstützung des kulturellen Bereichs?
Anfangs habe ich großes Verständnis für die recht grob gestalteten Maßnahmen gehabt. Mittlerweile entsteht aber der Eindruck, dass die Kulturbranche regelrecht ignoriert wird. Das halte ich für höchst problematisch. Nicht aus egoistischem Eigeninteresse, sondern weil es etwas mit den Fundamenten unserer Gesellschaft zu tun hat. Johannes Rau hat einmal gesagt, Kunst und Kultur sei der Teig, der die Gesellschaft zusammenhält, und nicht das Sahnehäubchen. Da ist, glaube ich, viel dran.
Es gibt seit einem Jahr keine zukunftsweisenden politischen Konzepte. Dabei haben die Institutionen, die für Bildung und Persönlichkeitsentwicklung entscheidend sind, viele Ideen – neben Schulen und Sportvereinen auch die Kultureinrichtungen. Das geht bei der Bibliothek los, bei der Musikschule, dem Tanzstudio weiter und hört bei Museen und Theatern auf. Dass all diese Orte die ersten waren, die zugemacht worden sind, obwohl sie oft dezidierte, strenge Hygienekonzepte haben, ist für mich nicht immer nachvollziehbar gewesen. Ich finde, wir haben ein Jahr lang versäumt zu diskutieren, welche Gesellschaft wir beim Blick auf das Thema Öffnungsstrategie nach einem Lockdown sein wollen: vor allem eine Konsumgesellschaft oder eine Gesellschaft, in der Bildung, kulturelle Vielfalt, Kreativität und soziale Interaktion zentral ist?
Die Künstlerinnen und Künstler, mit denen wir arbeiten, haben in den vergangenen Monaten immer gezeigt, dass sie bei der Bewältigung der Krise mitdenken und an ihr mitarbeiten wollen.
Im vergangenen Jahr mussten Sie das Festival Corona-bedingt absagen. Welche Lösungen haben Sie für die Festivalsaison 2021 unter Pandemie-Bedingungen parat?
Zunächst einmal: Wir haben eine unglaubliche Lernkurve. Im vergangenen Jahr gab es leider keine andere Möglichkeit, als die Ruhrfestspiele abzusagen. Das wichtigste Learning war, diese Entscheidung schnell zu akzeptieren und trotz der vielen Vorbereitungen sich wieder aufzurichten und die Zukunft der Ruhrfestspiele zu sichern. Mittlerweile ist viel passiert. Natürlich haben wir gehofft, dass wir 2021 alle in einer corona-freien Welt leben, in der ein Live-Festival problemlos möglich ist. Wir haben die Auswirkungen der andauernden Pandemie immer mitgedacht, waren aber bei allen Planungen für das Festival mit Publikum nie naiv. Darum haben wir auch parallel dazu digitale Veranstaltungsformen ausgearbeitet.
Wie sieht der konkrete Zeitplan aus?
Wir haben uns dazu entschieden, vor dem Pfingstwochenende bis zum 21. Mai nicht live vor Publikum zu spielen, weil wir es mit Blick auf die Inzidenzwerte nicht für realistisch halten. Gleichwohl starten die Ruhrfestspiele wie gewohnt am 1. Mai. Am 2. Mai gibt es eine feierliche Eröffnung mit einem ausschließlich gestreamten Programm ohne Zuschauerinnen und Zuschauer im Saal – aber mit hoffentlich sehr vielen Teilnehmenden an digitalen Endgeräten.
Und wie könnte es nach Pfingsten laufen?
Das neue Bundesinfektionsschutzgesetz schränkt die Möglichkeiten noch mehr ein, als wir es uns erhofft haben. Ausschlaggebend sind stets die aktuellen Inzidenzwerte. Sie stehen für Möglichkeiten von Öffnungen – oder eben auch nicht. Deshalb kann es durchaus sein, dass wir beizeiten noch einmal von Live-Terminen ab dem 21. Mai abrücken müssen. Rein theoretisch könnten wir bis zum Ende der Ruhrfestspiele am 20. Juni ausschließlich digitale Formate anbieten. Aber das Festival lebt natürlich von der Begegnung und den Menschen vor Ort. Deshalb hoffen wir, mit unseren ausgearbeiteten Konzepten einige Veranstaltungen in Präsenz anbieten zu können. Versprechen können wir das aber leider nicht.




Ob digital oder in Präsenz: Welche Botschaft wollen Sie setzen?
Wir wollen mit den Ruhrfestspielen in diesen Zeiten vermitteln: Hier ist ein Angebot, das Lebensfreude vermittelt, das bunt ist und gleichzeitig Angebote zu einer inhaltlichen Auseinandersetzung macht. Diesen Lust-Momenten kann Kunst in Corona-Zeiten Raum geben.
Was passiert ganz konkret an den beiden Eröffnungstagen?
Ab dem 1. Mai wird eine Open-Air-Ausstellung zum 75-jährigen Jubiläum zu sehen sein, die das Publikum der Ruhrfestspiele mit tollen Bildern in Szene setzt. Am 1. Mai ist das digitale Programm des Festivals kostenlos. Am 2. Mai eröffnen wir mit einer digitalen Veranstaltung im „Digitalen Ruhrfestspielhaus“. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier spricht ein Grußwort, ebenso NRW-Ministerpräsident Armin Laschet. Außerdem hält die 27-jährige Enis Maci, die in Gelsenkirchen geboren wurde und eine der kräftigsten literarischen Stimmen der Gegenwart ist, eine literarische Eröffnungsrede. Darauf folgt die Deutschlandpremiere von „Die Seidentrommel“, die jüngste Theaterarbeit des legendären japanischen Schauspielers Yoshi Oida. Wir bieten unserem Publikum also ein umfangreiches Programm, das einer Live-Veranstaltung würdig ist – mit dem Vorteil, dass man es vom Sofa aus genießen kann.




Auf Ihrer Homepage steht: „Jeder Mensch muss das Recht haben, Zugang zu Kunst und Kultur zu erhalten, daran teilzuhaben und mitzugestalten – gerade in Krisenzeiten.“ Das entspricht auch dem Leitgedanken unseres Bildungs-Leitprojekts, der TalentMetropole Ruhr. Wie wollen Sie mit dem Festival junge Menschen im Ruhrgebiet erreichen?
Ich sehe es so: Wenn junge Menschen auf ihrem Handy ausschließlich einen Mathe-Calculator angeboten bekämen und nicht auch Gaming- oder Unterhaltungsformate, würden technische Geräte nicht so eine hohe Beliebtheit bei der Zielgruppe haben. Das gleiche gilt auch für Kunst und Kultur: Man muss lustvolle Zugänge schaffen. In unserem Kinder- und Jugendtheaterbereich haben wir ein sehr differenziertes Programm, das sich an Schülerinnen und Schüler richtet. Das Gute dabei ist: Über die Bildungseinrichtungen erreicht dieses Programm alle und unterscheidet nicht nach sozialer und kultureller Herkunft. In diesem Jahr haben wir darüber hinaus ein breites Mitmachprogramm mit Workshops und Clubs, die im besten Fall live stattfinden, aber auch über digitale Tools funktionieren. Auf diese Weise möchten wir ein Angebot machen, in der Pandemie Jugendliche für kulturelle Themen zu begeistern. Denn ich finde, dass die Ruhrfestspiele hier einen besonderen Auftrag haben: Wir wollen uns immer wieder neu dafür engagieren, dass nachfolgende Generationen vielfältige Kunstformen kennenlernen.
Werfen wir einen Blick nach vorn: Welche Schlagzeilen würden Sie Ende Juni am liebsten über die diesjährige Festivalsaison lesen?
Erstens: Die Ruhrfestspiele haben vor Publikum stattgefunden. Zweitens: Es waren tolle Ruhrfestspiele. Und drittens: Die Ruhrfestspiele eröffnen ein Impfzentrum. Denn wir könnten unser Test-Zentrum, mit dem wir alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie Künstlerinnen und Künstler regelmäßig testen, auch ganz schnell in ein öffentliches Impfzentrum für alle Bürgerinnen und Bürger umwidmen.
Wir könnten unser Test-Zentrum, mit dem wir alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie Künstlerinnen und Künstler regelmäßig testen, auch ganz schnell in ein öffentliches Impfzentrum für alle Bürgerinnen und Bürger umwidmen.
Programm und Tickets
Highlights
Als digitale Premiere präsentieren die Ruhrfestspiele am 14. Mai die neue Arbeit des Circa Contemporary Circus aus Australien mit dem Titel „Sacre“, die bereits 2020 als Weltpremiere für die Ruhrfestspiele geplant war.
Im Jubiläumsjahr war es den Veranstaltern zudem besonders wichtig, eine Produktion aus Hamburg zu zeigen – der Stadt, die eine so wesentliche Rolle in der Begründung der Ruhrfestspiele spielt. In der Regie von Dušan David Parízek wird „Eine Frau flieht vor einer Nachricht“ nach dem gleichnamigen Roman von David Grossman aus dem Deutschen Schauspielhaus Hamburg digital zu sehen sein. Ebenfalls bereits für 2020 geplant war die Produktion „Don Quijote“ von Jakob Nolte nach Miguel de Cervantes in der Regie von Jan Bosse aus dem Deutschen Theater in Berlin. Die Produktion wird nun exklusiv für die Ruhrfestspiele aufgezeichnet, damit sie als Stream im Spielplan der Ruhrfestspiele gezeigt werden kann. Die digitale Vorstellung ist für den 21. Mai geplant. Im Genre Literatur werden alle geplanten Sonntagslesungen (auch) als digitale Veranstaltung präsentiert: Als erstes wird Paula Beer am 16. Mai Irmgard Keuns „Bilder aus der Emigration“ lesen – live gestreamt von der großen Bühne im Ruhrfestspielhaus.
Tickets
Aufgrund der aktuellen pandemischen Lage bietet das Ruhrfestspielhaus Karten für Live-Vorstellungen erst ab dem 21. Mai an. Der Vorverkauf findet ausschließlich digital und telefonisch statt. Die Karten-Hotline-Nummer lautet: +49 2361 9218-0. Weitere Informationen rund um das Festival gibt es auf der Homepage der Ruhrfestspiele. Im Bereich „Digitales Ruhrfestspielhaus“ gibt es etwa exklusive Premieren, interaktive Live-Formate und Konzerthighlights.
Ihr Sponsorenkreis ist groß, auch Mitglieder des Initiativkreises Ruhr sind darunter. Welchen Stellenwert haben diese Partner für die Ruhrfestspiele, gerade in Corona-Zeiten?
Diese Partner sind immer schon wichtig gewesen und sind es auch jetzt. Denn sie stellen finanzielle Ressourcen zur Verfügung, die uns dabei helfen, das Festival zu gestalten. Das wunderbare Signal ist: Diese Krise, die ja auch eine Krise unserer Partnerunternehmen ist, hat nicht dazu geführt, dass sie sich zurückzuziehen. Dafür bin ich unglaublich dankbar. Denn die Fallhöhe wäre immens, wenn es das Engagement unserer treuen Förderer in einem Ausnahmezustand wie jetzt nicht gegeben hätte.
Was bedeutet Ihnen das Ruhrgebiet?
Diese Region ist wahrscheinlich der interessanteste und spannendste Ort, den Europa im Augenblick hat.
Warum?
Wegen seines mächtigen Transformationsprozesses. Das Ruhrgebiet zehrt von Erinnerungskultur. Die Zechentürme sind museale Orte, aber die Menschen, die dort gearbeitet haben, sind alle noch da und haben viele Geschichten zu erzählen und Erfahrungen zu teilen. Gleichzeitig gibt es eine Art Turbo-Beschleunigung von Modernität und jede Menge Innovation. Das Ruhrgebiet darf meiner Meinung nach ruhig das Image des Schmuddelkinds haben, denn es ist trotzdem attraktiv, weil hier viel zu tun ist, an dem man sich beteiligen kann. Im Ruhrgebiet ist Kooperation leicht möglich, weil es hier nicht so elitär zugeht wie in anderen Metropolen. Für Kunst ist das ganz wunderbar – denn sie braucht Kooperation und Vernetzung, um sich richtig entfalten zu können.
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