Interviews
Drei Generationen im Gespräch über Corona
23. Oktober 2020




Initiativkreis-Co-Moderator Dr. Thomas A. Lange, Schülerin Lina Haj Omar und Andreas Orwat, bei Evonik Industries zuständig für die IT Academy, sprachen über die Auswirkungen der Corona-Pandemie für Wirtschaft, Bildung und Kultur.
Gemeinsam für ein junges Ruhrgebiet: Unter diesem Motto setzt der Initiativkreis Ruhr auf den Dialog mit nachfolgenden Generationen. Co-Moderator Dr. Thomas A. Lange, Vorsitzender des Vorstandes der NATIONAL-BANK AG, hat das wörtlich genommen und sich mit der 17-jährigen Lina Haj Omar und dem 36-jährigen Andreas Orwat in der Zentrale der NATIONAL-BANK am Essener Theaterplatz ausgetauscht. Der promovierte Rechtswissenschaftler, die Schülerin der Essener UNESCO-Schule, die 2016 mit ihrer Familie aus Syrien geflüchtet ist, und der Vertreter des Jungen Initiativkreises Ruhr stellten dabei fest: Auch die kommende Zeit wird für die Menschen herausfordernd werden.
Herr Dr. Lange, wird es Ihrer Meinung nach eine „Generation Corona“ geben – und wenn ja, was macht diese aus?
Dr. Thomas A. Lange: Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Entwicklung und unter Berücksichtigung der vergangenen Monate denke ich schon, dass es eine Corona-Generation geben wird. Die Frage ist nur, welche Generation es sein wird: Sind es diejenigen, die jetzt in den Grundschulen sind? Sind es diejenigen, die ihren beruflichen Einstieg wählen? Oder sind es diejenigen, die wie ich – vorausgesetzt wir erfassen eine Generation in etwa 25 Jahren – gegen Ende ihrer 50er laufen. Ich glaube, den größten und mit Abstand nachhaltigsten Eindruck werden diese Jahre bei denjenigen hinterlassen, die jetzt in der Grundschule sind. Diese Pandemie zählt sicher zu ihren ersten großen und auch prägenden Lebensereignissen.
Andreas Orwat: Ich stimme dem zu – glaube aber auch, dass es junge Menschen, die gerade im Übergang von Schule zu Beruf stecken, besonders schwer haben. Denn nicht alle Unternehmen in der Region können aktuell so einstellen wie vor der Pandemie. Außerdem gibt es Firmen, für die das Thema Stellenabbau zurzeit besonders akut ist. Natürlich war das in einigen Branchen auch vor Corona schon der Fall – aber das wird meiner Meinung nach nun noch verstärkt.




Andreas Orwat: „Nicht alle Unternehmen in der Region können aktuell so einstellen wie vor der Pandemie“
Dr. Thomas Lange: Ich möchte Ihnen widersprechen: Denn für diejenigen, die sich jetzt bewerben, ist die Situation singulär und somit in ein bis zwei Jahren auch wieder vorbei. Aber die Generation, die jetzt zur Schule geht, wird es wesentlich stärker prägen. Die von Ihnen geschilderte Situation mit Blick auf den Berufseinstieg ist vergleichbar mit der Finanzkrise und der sich anschließenden Wirtschaftskrise. Dort hat es in einem gewissen Zeitraum einen eher defensiveren Umgang mit Einstellungen gegeben. Letztlich hat es damals aber den grundsätzlichen Trend des Fachkräftemangels nicht aufgehoben.
Andreas Orwat: Das stimmt sicherlich. Und dennoch sehen wir einen recht starken Anstieg der Jugendarbeitslosigkeit in der Corona-Krise. Stellenabbau trifft leider oft junge Menschen, die sich in weniger etablierten Arbeitsverhältnissen wie etwa Befristungen befinden. Das sorgt mich.
Lina, was meinst du: Ist diese weltweite Krise ein Zeichen für einen Um- und Aufbruch? Und wie bewerten deine Verwandten in Syrien diese Frage?
Lina Haj Omar: Ich finde, in Deutschland hat die Corona-Pandemie positive und negative Aspekte hervorgebracht. Viele Menschen achten mehr auf ihre eigene Gesundheit und die ihrer Mitmenschen. Das finde ich gut. Auch der Familienzusammenhalt hat noch einmal einen ganz anderen Stellenwert bekommen. Ich war während des Lockdowns drei Wochen mit allen Familienmitgliedern zu Hause – und habe das als schön empfunden. Ich hatte viel Zeit für mich und konnte arabische Romane lesen, dafür war sonst nur wenig Zeit. Negativ finde ich, dass wir seit März alle fast immer mit einem Mindestabstand von 1,5 Metern zueinander leben. Ich fürchte, dass diese Grenze auch nach Corona erhalten bleibt – und das gefällt mir gar nicht. In Syrien ist die Lage anders: Denn dort befinden sich die Menschen schon sehr lange in einer politischen, wirtschaftlichen und existenziellen Krise. Das hat sich durch Corona jetzt noch einmal verstärkt.
Ich halte es für möglich, dass wir auch eine Reurbanisierung, zumindest in Teilen, werden beobachten können.Dr. Thomas A. Lange
Herr Dr. Lange, wie bewerten Sie die aktuelle Pandemie mit Blick auf das Wirtschaftssystem?
Dr. Thomas A. Lange: Das ist eine schwierige Frage, die nicht in wenigen Sätzen zu beantworten ist. Ich denke, dass uns die Folgen der Pandemie erst in der zweiten Hälfte dieses Jahrzehnts vollends deutlich werden. Und zwar, wenn es uns gelungen ist, einen Impfstoff zu entwickeln, der auch den Mutationen von Covid-19 standhält. Was sich aber heute schon abzeichnet, ist, dass es drei große Trends geben wird, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen. Erstens: Wir werden eine Deglobalisierung erleben, das heißt, die internationalen handelsrechtlichen Verflechtungen werden schrittweise zurückgedreht. Ein Stichwort ist hier die Verlässlichkeit der Lieferketten. Dieser Trend ist unumkehrbar. Man muss ihn wahrscheinlich in einen größeren historischen Kontext einbinden. Denn er verstärkt die ohnehin zu beobachtenden Tendenzen zu mehr Protektionismus – Stichwort „America first“. All das steht für eine bestimmte Renationalisierung ökonomischer Entwicklungen. Zweitens dürfte die Bedeutung von Infrastrukturen neu akzentuiert werden. So dürfte durch Covid-19 in allen Bereichen des privaten, beruflichen und gesellschaftlichen Lebens ein starker Digitalisierungsschub zu beobachten sein. Umgekehrt dürften große Büroarchitekturen, insbesondere mit Blick auf sogenannte Großraumbüros, zukünftig eine geringere Bedeutung haben. Schließlich halte ich es – drittens – für möglich, dass wir auch eine Reurbanisierung, zumindest in Teilen, werden beobachten können. Gegenwärtig ist der Zustrom der Menschen in die Metropolen noch ungebrochen. Das gilt nicht nur für Europa, sondern auch für andere Teile der Welt. Die Frage ist, ob aufgrund der damit verbundenen und sicherlich zunehmenden Enge in den Städten Pandemien, mit denen wir uns auch in Zukunft werden auseinandersetzen müssen, eine schnellere Verbreitung finden können als in anderen Regionen. Es wäre nicht das erste Mal – auch in den 60er- und 70er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts war der Trend zu beobachten, dass junge Familien vorzugsweise aus den zentralen in die Randlagen der Städte, zumeist an den Stadtrand zogen.
Aufgrund von Corona spielt die Naturverbundenheit wieder eine größere Rolle.Andreas Orwat
Andreas, ist das als zweifacher Familienvater, der in der Essener City wohnt, eine denkbare Lösung?
Andreas Orwat: Viele Familien finden aktuell keinen geeigneten Wohnraum, weil die Immobilienpreise sehr hoch sind. Es herrscht eine große Nachfrage, dazu Niedrigzinsen und ein überschaubares Angebot. Ich kann mir grundsätzlich vorstellen, dass ein solcher Trend künftig einsetzt – auch weil aufgrund von Corona die Naturverbundenheit wieder eine größere Rolle spielt. Viele haben in der Zeit des Lockdowns für sich erkannt, dass es vielleicht angenehmer ist, einen Spaziergang durch den Wald zu machen als durch die Großstadt.
Dr. Thomas A. Lange: Ich denke, wir müssen uns von dem bisherigen Anspruchsdenken lösen. Immer wieder wird der Wunsch artikuliert, möglichst in zentrale Innenstadtlagen zu ziehen. Auch in zahlreichen mit unseren Kunden geführten Beratungsgesprächen zu einer privaten Baufinanzierung wird diese Erwartung immer wieder zum Ausdruck gebracht. Ich erinnere mich noch gut daran, als meine Eltern ihr erstes Haus bauten, es war 1969, zogen auch sie an den Stadtrand. Nur dort hatten sie, aufgrund niedriger Preise, die Möglichkeit, das Haus bezahlen zu können. Obwohl meine Eltern ein gutes Einkommen hatten, waren die finanziellen Möglichkeiten mit vier kleinen Kindern begrenzt. Ich hoffe, dass sich diese Erkenntnis auch bei den jungen Familien im Ruhrgebiet schrittweise durchsetzen wird. Wir haben exzellente Rand- und Grünlagen, die bei genauer Betrachtung kaum an Lebensqualität zu überbieten sind.
Dr. Lange: „Die Folgen der Pandemie werden erst in der zweiten Hälfte dieses Jahrzehnts vollends deutlich“




Lina, hast du dir schon mal Gedanken gemacht, wo du in zehn Jahren wohnen und welchem Beruf du nachgehen wirst?
Lina Haj Omar: Ich möchte auch in zehn Jahren in Essen leben. Ich war schon in Berlin, Stuttgart, Hannover – aber hier, mitten im Ruhrgebiet, finde ich es am schönsten. Essen war auch die Grüne Hauptstadt Europas, und ich mag die Natur und bin viel draußen unterwegs. Das passt also. Außerdem weiß ich, dass ich etwas im sozialen Bereich studieren möchte. Denn ich wünsche mir, für eine Organisation wie etwa UNICEF zu arbeiten. Dann kann ich in der Region bleiben, aber trotzdem den Menschen in Krisengebieten wie Syrien helfen. Das wäre mein Traum. Denn ich bin 2016 nach Deutschland gekommen und habe da auch erst angefangen, die Sprache zu lernen. Aber durch den Krieg in Syrien weiß ich zu schätzen, wie gut es mir in Deutschland geht und wie dankbar ich für die vergangenen vier Jahre sein kann. Deshalb lerne ich viel und gerne.
Dr. Thomas A. Lange: Frau Omar, was wäre denn mit Psychologie als Studienfach? Kinderpsychologin ist ein überaus sozial angelegter Beruf. Sie helfen den Jüngsten und somit der Zukunft unserer Gesellschaft, zu ihrer Stabilität zurückzufinden. Meine älteste Tochter studiert Psychologie in London und ich freue mich sehr darüber, weil es ein wertvoller, ein den Menschen zugewandter Beruf ist.
Lina Haj Omar: Danke, darüber denke ich nach. Als Teilnehmerin am TalentCamp Ruhr 2019 ist bei mir der Wunsch entstanden, soziale Arbeit zu studieren, so wie es Camp-Leiterin Larissa Närdemann von der TalentMetropole Ruhr gemacht hat. Aber ich habe ja noch ein bisschen Zeit, 2023 steht erst mal mein Abitur an, bis dahin kann ich mich entscheiden.
Lina, du gehst als einzige aus der Runde noch zur Schule: Wie hast du die vergangenen Monate wahrgenommen?
Lina Haj Omar: Ich bin ein Mensch, der Schule als Lernort braucht. Deshalb fand ich E-Learning sehr schwierig. Ich kann von zu Hause auf alles zugreifen. Aber ohne meine Mitschülerinnen und Mitschüler und ohne regelmäßigen Austausch zu lernen fällt mir schwer. Ich brauche den Kontakt mit anderen – auch zu den Lehrerinnen und Lehrern.
Herr Dr. Lange, wären Sie denn heute noch einmal gerne Schüler?
Dr. Thomas A. Lange: Die Schulzeit ist eine der Lebensphasen, die ich gerne verdränge. Wenn ich an meine erste Klasse und meine damalige Klassenlehrerin, Frau Mayer, zurückdenke – eine gütige, ältere Dame, die mir für mein Verhalten in der Schule die Note 1 gegeben hatte – entsinne ich mich gerne an die Zeit. Wenn ich aber an meine Jahre in der Mittelstufe am Gymnasium denke, kommt mir der eine oder andere Eintrag ins Klassenbuch in den Sinn. Oder der Hinweis auf so manchem Halbjahreszeugnis, dass die Versetzung gefährdet sein könnte. Dies sind keine schönen Erinnerungen (lacht), aber sie gehören offenbar dazu. Alles in Allem bin ich dankbar, dass meine Schulzeit hinter mir liegt, auch wenn sich diese Einstellung mit einem zunehmenden Alter relativieren soll.
Ich bin ein Mensch, der Schule als Lernort braucht. Deshalb fand ich E-Learning sehr schwierig.Lina Haj Omar
Andreas Orwat: Mein ältester Sohn ist dreieinhalb Jahre alt. Ich wünsche mir, dass der Wert von Schule und Bildung bis zu seiner Einschulung in drei Jahren deutlich gestiegen ist. Vor allem die Digitalisierung an Schulen braucht einen Riesenschub. Bislang ist dieses Thema zu stiefmütterlich behandelt worden, es wurde auch zu wenig investiert. Die Lebens- und Arbeitswelt wird immer digitaler, und es braucht einfach Aufklärung und Lernformate dazu. Ein persönliches Beispiel: Ich selbst gehöre bei Evonik zu einem Team, in dem drei Kolleginnen und Kollegen in den USA arbeiten – ich kann mit ihnen, wenn nicht wie aktuell gereist werden darf, nur mithilfe von Videokonferenzen kommunizieren. Zwar glaube ich nicht, dass die Digitalisierung die zwischenmenschliche Komponente komplett ersetzt, aber die Globalisierung ist einfach ein weiteres Megathema. Ich finde, Kinder müssen darauf vorbereitet werden, digitale Tools zu verstehen und zu beherrschen. Für mich gehört das Thema „Digitales Lernen und Arbeiten“ deshalb unbedingt auf den Lehrplan.




Lina Haj Omar: „Wir müssen gegenseitig mehr auf uns aufpassen“
Lina und Andreas – was nehmt ihr ganz persönlich aus den vergangenen Monaten für euch mit? Und wie stellt ihr euch die kommenden fünf bis zehn Jahre vor?
Andreas Orwat: Mein Lerneffekt aus den vergangenen Monaten ist, selbstverständliche Dinge anders wertschätzen zu können: selbst gesund zu sein und gesunde Menschen um sich herum zu haben, den Wert von Familie zu spüren, Kontakt zu anderen haben, die man mag. Ich würde mir wünschen, dass das bleibt, wenn Corona hoffentlich bald überstanden ist. Betrieblich wünsche ich mir deshalb, dass Online-Meetings irgendwann nicht mehr unsere tägliche Arbeit bestimmen.
Lina Haj Omar: Mein Fazit ist: Wir müssen gegenseitig mehr auf uns aufpassen und mehr Zeit für uns selbst haben. Ich habe gelernt, Dinge nicht in die Zukunft zu verschieben, sondern auch mal direkt zu handeln. Denn ich hatte mir schon sehr lange vorgenommen, das Spielen des orientalischen Instruments Oud zu lernen. Aber erst Corona hat mich tatsächlich dazu gebracht, damit anzufangen.
Zum Abschluss unseres Gesprächs gibt es ein kleines Gedankenexperiment. Wir richten den Blick nach vorn und denken an die Zeit nach der Corona-Pandemie: An welchen Lieblingsort im Ruhrgebiet würden Sie, Herr Dr. Lange, Frau Omar beizeiten einmal mitnehmen und warum?
Dr. Thomas A. Lange: In das Museum Folkwang. Gern würde ich ihr sowohl die gegenwärtige Keith Haring Ausstellung als auch die wunderbare Kunst des 20. Jahrhunderts zeigen.
Lina Haj Omar: Da gehe ich gerne mit.
Andreas, wo möchtest du mit Herrn Dr. Lange hin?
Andreas Orwat: Eine Runde durch den Heissiwald in Essen. Das ist eine schöne Ablenkung von der Arbeitswelt.
Dr. Thomas A. Lange: Die Einladung nehme ich gerne an.
Lina darf Andreas ihren Lieblingsort zeigen.
Lina Haj Omar: Ich liebe die Natur, deshalb geht es zur Ruine Isenburg. Dort kann man in Ruhe sitzen und über alles Mögliche nachdenken.
Andreas Orwat: Sehr gerne, das klingt gut.
Drei Generationen - drei Lebensläufe
Dr. Thomas A. Lange, geboren 1963, begann nach seinem Studium der Rechtswissenschaften, u. a. an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, der University of Surrey sowie der London School of Economics, und einer Promotion zum Dr. jur. 1992 seine berufliche Laufbahn bei der Deutschen Bank. Nach verschiedenen Stationen im In- und Ausland wurde er 2001 zum Mitglied der Geschäftsleitung berufen. Parallel dazu wurde ihm die Honorarprofessur der Universität Rostock für Nationales und Internationales Bankmanagement verliehen. 2007 folgte er einem Ruf der NATIONAL-BANK als Sprecher des Vorstandes. In Anerkennung seiner Verdienste um die Leitung der Bank wurde er 2011 zum Vorstandsvorsitzenden ernannt. Seit 2016 ist er Co-Moderator des Initiativkreises Ruhr.
Andreas Orwat, geboren 1984 in Frechen, wuchs aber in Essen auf. Seit 2012 ist er bei Evonik in der Konzernzentrale beschäftigt und mittlerweile zuständig für die IT Academy. Außerdem ist er in der Geschäftsführung der Evonik Catering Services GmbH verantwortlich für das Thema Personal. Andreas Orwat wohnt mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen in Essen und ist Mitglied im Jungen Initiativkreis Ruhr.
Lina Haj Omar (17) flüchtete 2016 mit ihrer Familie aus Syrien. Seitdem besucht sie die UNESCO-Schule in Essen. 2023 will sie dort ihr Abitur machen, anschließend Soziale Arbeit studieren. Lina nahm 2019 am TalentCamp Ruhr der TalentMetropole Ruhr teil.
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