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„Gerade in Zeiten von Corona ist es wichtig, Austausch zu ermöglichen“
22. Mai 2020




Dr. Judith Wolf ist seit rund einem Jahr Direktorin der Katholischen Akademie „Die Wolfsburg“ in Mülheim an der Ruhr. Seit Kurzem finden dort unter strengen Hygiene-Auflagen wieder Veranstaltungen statt. Ein Portrait.
Authentische und offene Dialoge mit Menschen aus ganz unterschiedlichen Branchen im Kontext einer pluralisierten Gesellschaft initiieren – das ist das Markenzeichen der 1960 gegründeten Katholischen Akademie „Die Wolfsburg“. Auch der Initiativkreis Ruhr ist ein wichtiger Partner: Unter der Überschrift „Die Zukunft an der Ruhr, eine Region erfindet sich neu“ laden die „Wolfsburg“ und das Wirtschaftsbündnis regelmäßig zu Gesprächsreihen ein, bei denen die Potenziale und Probleme des Ruhrgebiets im Mittelpunkt stehen. Seit knapp einem Jahr wird das beliebte Tagungshaus in Mülheim an der Ruhr von Dr. Judith Wolf geleitet. Für die promovierte Theologin ist vor allem eines wichtig: „In die zahlreichen Dialoge, die wir in unserem Haus führen, immer auch die Perspektive der christlichen Sozialethik, von Gerechtigkeit und Solidarität einzubringen.“ Wer Gesellschaft verändern wolle, müsse den Menschen ganzheitlich in den Blick nehmen. „Es muss darum gehen, Freiheit und Autonomie zu betonen – aber auch Verantwortung und Fehlerhaftigkeit. Gerade in Zeiten von Corona ist es deshalb so wichtig, den Austausch mit anderen zu ermöglichen“, betont die 52-Jährige. Dabei möchte die Direktorin gemeinsam mit ihrem Team Fragen beantworten wie: Was bedeutet Solidarität konkret bei der Bewältigung der Folgen einer Pandemie?
Seit dem 6. Mai empfängt das ehemalige Kur- und Waldhotel des Mülheimer Solebades Raffelberg wieder Gäste. Rund 30.000 sind es jährlich. Eigentlich. „In diesem Jahr werden wir diese Zahl nicht erreichen können“, sagt Wolf. Rund 220 Personen nehmen normalerweise an Veranstaltungen im großen Tagungsraum teil. „Wegen der beschlossenen Schutz- und Hygieneregeln können wir aktuell aber nur maximal 32 Personen gleichzeitig zulassen. Deshalb bieten wir einen Großteil unserer Veranstaltungen auch als Live-Stream an.“ Das gilt auch für die Diskussion am 16. Juni zum Thema „10 Jahre nach der Kulturhauptstadt 2010 – Chancen genutzt?“. Initiativkreis Co-Moderator Dr. Thomas A. Lange wird gemeinsam mit weiteren Podiumsteilnehmern erörtern, wie es gelingen kann, kreative und junge Kulturschaffende dauerhaft im Ruhrgebiet anzusiedeln. Wolf: „Ich freue mich auf den Dialog zu dieser Frage, die durch die Corona-Pandemie aktueller denn je geworden ist.“
Eindrücke aus vergangenen Veranstaltungen
Wolfs Karriere in der Katholischen Akademie „Die Wolfsburg“ begann 1999 als Dozentin. Zuvor studierte die gebürtige Kevelaererin in Münster und Bamberg Katholische Theologie, Philosophie, Geschichte und Pädagogik. Ein breites Feld ihrer Arbeit bildete schon immer die Ethik im Gesundheitswesen und die damit verbundenen Fragen zur gerechten Verteilung knapper Mittel im Gesundheitswesen. Deshalb war die Akademiedirektorin bereits vor Ostern eine gefragte Ansprechpartnerin, als es um die schwierige Frage einer so genannten Triage an deutschen Krankenhäusern ging. Denn in einigen Regionen Italiens und Frankreichs mussten Behandlungsteams entscheiden, wer vorrangig medizinische Versorgung erhalten sollte. „Als Mitglied im Rat für Gesundheit und Medizinethik im Bistum Essen kann ich sagen: Wir haben viele intensive Gespräche geführt und gemeinsam mit Bischof Overbeck eine Stellungnahme veröffentlicht. Dabei haben wir betont: Der Abbruch einer intensivmedizinischen Therapie in einer Triage-Situation ist aus christlich-ethischer Sicht schwer zu rechtfertigen. Wenn die Entscheidung jedoch nach bestem Wissen und Gewissen getroffen wurde, muss die Bewertung der Handlung offen bleiben.“ Überhaupt ist das Gesundheitswesen ein wichtiges Arbeitsfeld der Akademie. Mit Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen arbeitet die „Wolfsburg“ an Fragen einer wertorientierten Unternehmenskultur – ein stets bereichernder Austausch, findet Wolf.
Die Katholische Akademie „Die Wolfsburg“ in Zahlen:
- Seit 1960 – zwei Jahre nach der Bistumsgründung – ist die „Wolfsburg“ die Katholische Akademie des Bistums Essen
- Zugleich ist das ehemalige Kur- und Waldhotel des Mülheimer Solebades Raffelberg (Baujahr 1906) mit einer denkmalgeschützten Jugendstilfassade Tagungshaus für zahlreiche Gastgruppen aus Kirche, Wirtschaft und Gesellschaft.
- Die Akademie lädt pro Jahr zu rund 250 Veranstaltungen ein
- Insgesamt zählt die „Wolfsburg“ pro Jahr rund 30.000 Gäste
- Das Haus beschäftigt 50 Mitarbeitende und hat 70 Gästezimmer
- Dr. Judith Wolfs Vorgänger, Dr. Michael Schlagheck, hat die Akademie 24 Jahre lang geführt hat und ist zum 1. Juli 2019 in den Ruhestand gewechselt
- Zur Neugestaltung der Akademiekapelle sagte Schlagheck: „Diesen Gottesdienstraum werde ich ganz sicher vermissen. Ein Raum, der von Wort, Musik und Schweigen getragen ist – wohltuend zu den Wortfluten in Kirche und Gesellschaft.“
Lobende Worte findet sie auch für ihre Kolleginnen und Kollegen im Bistum Essen. „Ich schätze die Arbeit hier sehr, weil es ein wirklich innovatives Bistum ist, in dem die Herausforderungen beherzt angegangen werden und die gesellschaftliche Realität eine wirkliche Chance hat.“ Ein Beispiel dafür sei das neue Podcast-Format „Wolfsburg Experience“, bei dem sie die Corona-Krise gemeinsam mit ihrem 50-köpfigen, kreativen „Wolfsburg“-Team vor allem für eine jüngere Zielgruppe aufbereitet. Auch der Austausch mit dem Jungen Initiativkreis Ruhr soll in diesem Jahr intensiviert werden: Am 3. November geht es bei der Frage „Reset oder Neustart?“ um Impulse für das Ruhrgebiet nach Corona. „Bei dieser Veranstaltung wollen wir auch jungen Entscheidungsträgern und Betroffenen, etwa aus der Startup-Branche, eine Stimme geben und gemeinsam nach Lösungen suchen“, sagt Wolf. So arbeitsintensiv die ersten Wochen mit Blick auf die Pandemie verlaufen seien, so entschleunigend sei die Zeit nach Feierabend im heimischen Moers gewesen:
Meine Tochter ist 16 und hat das Abitur noch vor sich. Mein 19-jähriger Sohn hat seine Studienzelte abgebrochen und ist für die Zeit des Shutdowns wieder zu uns nach Moers gezogen. Wir haben schöne Abende zu viert verbracht und viel geredet. Eine so intensive Zeit werden wir als Familie wohl nie mehr verbringen.
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