Kolumne, Interviews

Netzentdecker Hajo Schumacher: „Ich begegne der Digitalisierung faszinierter, aber vorsichtiger“


14. Dezember 2020

Netzentdecker Hajo Schumacher. (Foto: Annette Hauschild/OSTKREUZ)

Mit den „Netzentdeckern“ hat der bekannte Journalist Hajo Schumacher Bürgern geholfen, das Internet richtig zu entdecken. Im Zuge des Non-profit-Projekts, das von der Brost-Stiftung in Essen finanziert wurde, sind seine Kolumnen in verschiedenen Tageszeitungen erschienen – und auch hier im Online-Magazin des Initiativkreises Ruhr. Im Interview fällt sein Fazit positiv aus.

In 100 Folgen der Netzentdecker haben Sie das Internet auf Herz und Nieren überprüft. Was macht Ihnen Sorgen? Und was Hoffnung?
Drei problematische Tendenzen sind mir bei meinem Recherchen immer wieder begegnet: Erstens die massive Suchtproblematik. Ob unsere Kinder zocken oder wir Älteren in den Sozialen Netzwerken rumhängen - wir sollten uns immer wieder klar machen, dass wir mit allen Tricks, insbesondere mit dem Aktivieren unseres körpereigenen Belohnungshormons Dopamin, dazu verleitet werden sollen, solange wie möglich online zu sein. Denn jede Sekunde mehr liefert mehr Daten, die wiederum vermarktet werden. Wir bekommen also Google, Facebook und Co nicht geschenkt, sondern arbeiten dafür hart als Datenlieferanten.

Weil uns dramatische, brutale und oft eben auch falsche Nachrichten weit mehr aktivieren als Katzenbilder, verbreitet sich Böses, Falsches und Verschwörerisches deutlich schneller als das Überlegte, Abgewogene und das faktisch Komplexe.

Zweitens: Weil uns dramatische, brutale und oft eben auch falsche Nachrichten weit mehr aktivieren als Katzenbilder, verbreitet sich Böses, Falsches und Verschwörerisches deutlich schneller als das Überlegte, Abgewogene und das faktisch Komplexe. So werden drittens Gesellschaften zunehmend polarisiert, also gespalten, wie wir in den USA, aber auch in Europa beobachten können. Hier stehen sich die Interessen der weltgrößten Unternehmen und der demokratischen Systeme unvereinbar gegenüber. Die Politik beginnt erst langsam, diese Phänomene zu begreifen. Ohne ein Generationenrassist sein zu wollen, aber: Erst die kommende Politikergeneration dürfte sich dieser Entwicklungen vollständig bewusst sein und, hoffentlich, reagieren. Google ist eben nicht nur eine Such-, sondern auch eine Bewusstseinsmaschine, die nicht in die Hände eines privatwirtschaftlichen Monopolisten gehört. Ach ja, das Positive: Als analog sozialisierter Ötzi war es für mich großartig zu erleben, wie geduldig mir junge Menschen dieses Internet erklärt haben. Die bildungsbürgerliche Arroganz von uns Boomern, dass alles Digitale ohnehin Teufelszeug sei, wird dieser neuen faszinierenden Technologie nicht gerecht.

Als Mitglied einer Generation, die noch analog aufgewachsen ist: Welche Tipps würden Sie Gleichaltrigen geben, damit sie bei den Jüngeren mitreden können?
Das Zauberwort lautet: reverse mentoring, also umgekehrte Mentorenschaft. Nicht wir Alten nehmen junge Menschen an die Hand, sondern exakt andersherum: Die Jungen erklären uns Älteren, wie der digitale Hase läuft: Warum ist Fortnite so spannend, wie funktioniert Podcasten, was macht die Faszination von TikTok aus? Dafür müssen wir älteren Herrschaften leider vom hohen Ross der Besserwisser absteigen und einfach mal zuhören. Ist übrigens gar nicht schlimm.

Es gibt so viele spannende und bildungsrelevante Themen, aber die Textaufgaben drehen sich wie vor hundert Jahren immer noch um Bauern und Kartoffeln.

2020 hat Schulen und andere Lerneinrichtungen vor große Herausforderungen gestellt. Was muss das Ruhrgebiet digital unternehmen, um an der Bildungsfront nicht den Anschluss zu verlieren?
Beim Thema digitale Bildung ist das Ruhrgebiet überall. Wir sollten uns deutschlandweit von dem Ansatz verabschieden, dass wir nur genügend Tablets und 5G-Anschlüsse an die Schulen bringen müssen und schon sei die Digitalisierung vollzogen. Technik allein ist sicher nicht die Antwort: Deshalb schicken die Internetmillliardäre aus dem Silicon Valley ihre Kinder ja auch auf Waldorfschulen, die strikt analog unterrichten und den Kindern bestenfalls ein Stück Holz zum Spielen spendieren. Leider beginnt das Problem noch viel früher, nämlich bei der Lehrerausbildung. In der pädagogischen Theorie wird noch viel zu viel digital vs. analog gedacht, dabei geht es doch darum, die bewährten analogen Instrumente zu bewahren und sie mit den immensen Chancen der Digitalisierung zu verschmelzen. Macht es wirklich Sinn, Vokabeln zu pauken, wenn jedes Smartphone in Echtzeit ganze Unterhaltungen übersetzen kann? Vom Pädagogikstudium der Lehrenden bis zum täglichen Unterricht, von den Inhalten bis zu den Techniken, muss alles auf den Prüfstand. Ich wünsche mir eine Schule, die ein Halbjahr lang den Unterricht zum Beispiel rund um das Smartphone organisiert. Im Physikunterricht ließe sich die Funktechnologie behandeln, im Erdkundeunterricht das Thema der Rohstoffe, im Sozialkundeunterricht das Phänomen der Fake News, in den Sprachfächern der Umgang mit dem Gerät in anderen Ländern, im Fach Deutsch die Veränderung der Sprache durch Abkürzungen und Emojis oder das Phänomen der Filterblasen. Es gibt so viele spannende und bildungsrelevante Themen, aber die Textaufgaben drehen sich wie vor hundert Jahren immer noch um Bauern und Kartoffeln.

Hajo Schumacher lobt die Gründerallianz Ruhr als Schnittstelle für Digitalisierung

Wenn es um Digitalisierung geht, darf ein Selfie nicht fehlen – aufgenommen im Dezember 2019 vor der Corona-Pandemie: Netzentdecker Hajo Schumacher (3.v.r.) zu Gast im Haus 5 der Gründerallianz Ruhr auf Zollverein mit (v.l.) Sarah Wurzer, Stefan Weber, Christian Icking, Dirk Opalka (hinten) und Ersin Üstün. (Foto: Gründerallianz)

Wie wichtig sind Initiativen wie die Gründerallianz Ruhr Ihrer Meinung nach für das Startup-Ökosystem Ruhrgebiet?
Solche Initiativen können in Ihrem Wert gar nicht hoch genug eingeschätzt werden, weil sie Anlauf-, Schnitt- und damit Kommunikationsstellen bieten für alle Akteure der Digitalisierung. Was mich bei meinem Recherchen immer wieder verblüfft hat, war einerseits die analoge Beharrlichkeit gerade älterer Entscheider, die offenbar insgeheim hoffen, sich ohne viel digitale Veränderung in die Rente retten zu können und andererseits einer unglaublichen Vielfalt von digitalen Gehversuchen, die aber oft isoliert stattfinden. Besonders beeindruckt hat mich die IHK Bochum, wo eine altehrwürdige Institution versucht, alle digitalen Player der Region zu ermitteln und zu vernetzen. Es ist doch Unsinn, wenn ein halbes Dutzend Firmen mit dem 3D-Druck experimentieren, ohne sich auszutauschen.

Was war für Sie persönlich die spannendste Netzentdeckung?
Ganz ehrlich: die Brost-Stiftung in Essen, die das ganze Projekt zwei Jahre lang unterstützt hat. Ich war überrascht, wie aufgeschlossen Vorstand und Kuratorium allen Facetten der Digitalisierung gegenüberstanden. Und noch was: Die Gründerallianz hat geholfen, einen Workshop zum Megathema Design Thinking für die Netzentdecker zu organisieren, digital natürlich, aber unheimlich bereichernd. Mein Fazit: ich begegne der Digitalisierung zugleich faszinierter als früher, aber auch vorsichtiger. Die Balance zwischen Euphorie und Weltuntergang zu halten, das ist die größte Herausforderung für uns alle.

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