„Die Lehren aus Corona“

Initiativkreis im Interview

Interviews

„Die kritische Lage der Pflege war schon vor Corona bekannt“


09. März 2021

Zusammenhalt sei im Ruhrgebiet nicht nur ein Wort, auch wenn die Tage der Zechen längst vorbei seien, sagt Andrea Schmidt-Rumposch, Pflegedirektorin und Vorstandsmitglied Universitätsmedizin Essen. (Foto: Universitätsmedizin Essen)

Das Corona-Virus drückt der Welt seinen Stempel auf. Wie trifft die Pandemie die Menschen, die Unternehmen, das Ruhrgebiet als Region? Welche Schlüsse lassen sich daraus für die Zukunft ziehen? In unserer Interview-Reihe „Die Lehren aus Corona“ fragen wir bei Persönlichkeiten aus unserem Netzwerk nach. Diesmal: Andrea Schmidt-Rumposch, Vorstandsmitglied und Pflegedirektorin Universitätsmedizin Essen.

Was bedeutet die Corona-Pandemie für Ihr Unternehmen ganz speziell?
Auch wir standen wie viele andere Kliniken vor der Herausforderung, möglichst zügig die Strukturen so anzupassen, dass sowohl die Versorgung der Covid-19- als auch die der Non-Covid-19-Patientinnen und -Patienten gewährleistet werden konnte. Wir hatten in der Universitätsmedizin Essen eine hohe Anzahl an Schwer- und Schwerstkranken mit Covid-19 zu versorgen. Damit standen für andere Patientengruppen zeitweise nur eingeschränkte Strukturen zur Verfügung. Die Corona-Pandemie hat ziemlich schnell deutlich gemacht, dass das Personal der limitierende Faktor ist.

Was hat sich für Sie persönlich geändert? Und: Hand aufs Herz – auf welche liebgewonnene Gewohnheit mussten Sie durch die Corona-Einschränkungen verzichten?
Ich habe natürlich – so wie viele andere Menschen in systemrelevanten Berufen auch – Zeit mit und für meine Familie vermisst. In unserer Krankenhauseinsatzleitung wird tagesaktuell nach Versorgungslage abgestimmt, welche Maßnahmen erforderlich sind. Mit den Erfahrungen aus dem Frühjahr wurden Eskalationsstufenpläne für Intensiv-, OP- und Allgemeinpflege-Bereiche mit räumlicher Trennung von Covid- und Non-Covid-Bereichen erarbeitet. Nach jeweiliger Patienten- und Personalsituation wurden dann die Strukturen entsprechend angepasst. Wir mussten und müssen dafür sorgen, das Personal nicht zu überlasten, um die „Langstrecke“ der Pandemie zu bewältigen. All dies ist zeitintensiv.

Und Konzertbesuche, die vermisse ich definitiv.

Veränderungen wird es geben und geben müssen, beispielsweise bei einer angemessenen Entlohnung, attraktiven und bedarfsgerechten Ausbildungsstrukturen, Anpassungen der Tätigkeitsprofile und guten Arbeitsbedingungen.

Was sind die besonderen Herausforderungen, die sich dem Ruhrgebiet durch Corona stellen – wo zeigen sich Schwächen und wo vielleicht Stärken?
Auch wenn die Tage der Zechen längst vorbei sind: Zusammenhalt ist im Ruhrgebiet nicht nur ein Wort. Unter Tage waren alle gleich, da spielten Herkunft oder Weltanschauung keine Rolle; entscheidend war, dass man sich aufeinander verlassen konnte. Diese Solidarität gibt es hier noch immer, und wir haben in der Pandemie gesehen, wie schnell sich die Menschen im Ruhrgebiet auf die neue Lage einstellen konnten. Diese Solidarität herrschte auch in unseren Teams vor; viele ehemalige Pflegefachpersonen und Medizinstudierende haben sich gemeldet, um uns in der Versorgung zu unterstützen. Zusammenhalt ist eine ausgewiesene Stärke des Ruhrgebiets.

Besondere Herausforderungen finden sich in der Ausdifferenzierung des Gesundheitssystems – nicht nur im Ruhrgebiet. Insbesondere die sektorenübergreifende Versorgung wurde zu Beginn der Krise nicht mitgedacht, und es war beispielsweise schwierig, Covid-19-positive Patientinnen und -Patienten in eine geeignete Nachversorgung zu überführen.

Wie wird Corona Medizin-Wirtschaft und Gesellschaft auf Zeit verändern?
Veränderungsimpulse gibt es viele, daher möchte ich nur auf einen eingehen: Ein bundesweiter Fachkräftemangel und die kritische Lage der Pflege waren schon vor Corona bekannt. Neben der vorhandenen gesellschaftlichen Anerkennung ist daher die Politik gefragt, die bestehenden Strukturen zu verbessern. Veränderungen wird es geben und geben müssen, beispielsweise bei einer angemessenen Entlohnung, attraktiven und bedarfsgerechten Ausbildungsstrukturen, Anpassungen der Tätigkeitsprofile und guten Arbeitsbedingungen. Dazu gehört auch, die im Versorgungsprozess Tätigen in alle Entwicklungen direkt einzubeziehen. Es ist notwendig, dass beispielsweise Pflegepersonen eine aktive Rolle bei der Gestaltung übernehmen und die zukünftige Entwicklung nicht anderen Berufsgruppen überlassen.

Ich halte es für fatal, wenn Entscheidungsträger glauben, dass eine gesellschaftliche Anerkennung und das oft beschriebene ‚Klatschen auf dem Balkon‘ ausreichen.

In welcher Form haben Unternehmen eine besondere Verantwortung für ihre Belegschaft und die Gesellschaft in Krisenzeiten wie diesen?
Unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind maßgeblich für den Erfolg der Universitätsmedizin Essen verantwortlich. Insbesondere in Krisenzeiten – aber auch ohne diese – ist es daher dringend notwendig sicherzustellen, dass das Personal nicht zu sehr belastet wird und sich nach den eigenen Wünschen und Talenten weiterentwickeln kann. Wir haben daher eine Unternehmenskultur, in der unsere Mitarbeitenden in allen Lebensphasen durch Unterstützungsangebote bestmöglich begleitet werden sollen; beispielsweise im Bereich der Kinderbetreuung, der betrieblichen Gesundheitsförderung oder der Personalentwicklung. Denn neben all den beruflichen Notwendigkeiten sollen weiterhin auch private und familiäre Bedürfnisse der Mitarbeitenden im Blick stehen.

Während der Pandemie haben wir unsere Teams in notwendige Umstrukturierungen einbezogen und freiwillige Helferinnen und Helfer sowie Zeitarbeit eingesetzt. Ich bin mit den Klinikpflegedienstleitungen im täglichen engen Austausch.

Inwieweit ist Corona ein Test für die Solidarität unter den Menschen, und welche Entwicklung sehen Sie mit besonderer Sorge?
Wir haben in den vergangenen Wochen und Monaten eine große Solidarität sowohl innerhalb unserer Pflegeteams als auch mit den Menschen in der Stadt Essen gespürt. Nicht nur zu Beginn der Pandemie haben uns viele persönliche Dankesworte oder Spenden erreicht, die zeigen sollten, dass unsere Arbeit wertgeschätzt wird. Ich denke, dass die gesellschaftliche Wertschätzung der Gesundheitsberufe gestiegen ist. Die lange Dauer der Infektionsschutzmaßnahmen ermüdet natürlich jede und jeden Einzelnen. Wir sehen in unserer Klinik täglich die Auswirkungen von Corona – ich verstehe, dass es Menschen schwerer fällt, sich beispielsweise an die Abstandsregeln zu halten.

Im Hinblick auf den politischen Umgang mit Pflege habe ich allerdings weniger Verständnis: Ich sehe es mit Sorge, wenn auf die breite gesellschaftliche Wertschätzung keine politische Veränderung folgt. Ich halte es für fatal, wenn Entscheidungsträger glauben, dass eine gesellschaftliche Anerkennung und das oft beschriebene „Klatschen auf dem Balkon“ ausreichen.

Für ein innovatives Gesundheitssystem sind strukturelle Änderungen nötig

Lassen sich aus der Krise auch Chancen ableiten und wenn ja, welche?
Ja, jede Krise beinhaltet auch die Chance zur Weiterentwicklung. In diesem Fall war schon vor Corona deutlich, dass wir strukturelle Änderungen benötigen für ein innovatives, zukunftsfähiges Gesundheitssystem in Deutschland. Die Pandemie hat Entwicklungen wie der Digitalisierung und dem Überwinden von Sektorengrenzen in der Versorgung einen starken Impuls versetzt. Diesen müssen wir nun in eine kontinuierliche, radikale und vor allem nachhaltige Umwandlung des Gesundheitssystems verstetigen.

Das ist Andrea Schmidt-Rumposch

Andrea Schmidt-Rumposch absolvierte zwischen 1987 und 1990 ihr Studium der Krankenpflege an der Medizinischen Fachschule der Humboldt Universität zu Berlin und begann danach ihre Tätigkeit als Krankenschwester in der Charité. 1999 hat Schmidt-Rumposch die Fachweiterbildung zum Führen von Stationen erfolgreich abgeschlossen. Von 2007 bis 2010 folgte das Studium Bachelor of Science im Gesundheits- und Pflegemanagement an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin.

In der Charité war Schmidt-Rumposch in verschiedenen Leitungsfunktionen tätig, unter anderem von 2010 bis 2014 als Pflegerische Leitung im CharitéCentrum 12 für Innere Medizin und Dermatologie und ab 2014 als Stellvertretende Pflegedirektorin der Charité. 2017 wechselte Schmidt-Rumposch als Pflegedirektorin und Vorstand in die Universitätsmedizin nach Essen.

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