Interviews

Verein ZWEITZEUGEN kämpft gegen das Vergessen


22. September 2020

Jede Altersgruppe wird von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern - hier von Mit-Gründerin und Vorstandsmitglied Sarah Hüttenberend - alters- und bedarfsgerecht an das Thema rund um die Schrecken des Holocaust herangeführt. (Fotos: ZWEITZEUGEN e.V.)

Es sind Gänsehaut-Momente, wenn Holocaust-Überlebende aus ihrem Leben erzählen. Aber was passiert mit den Erinnerungen, wenn die Zeitzeugen gestorben sind? Der Verein ZWEITZEUGEN e.V. will ihre Erinnerungen bewahren. Bei den TalentTagen Ruhr möchte das mehrfach ausgezeichnete Projekt nun weitere Kinder und Jugendliche erreichen.

Für ein Uni-Projekt reisten Sarah Hüttenberend und Anna Damm 2010 nach Israel. Sie machten sich auf die Suche nach den Menschen hinter den nüchternen Zahlen und erschreckenden Bildern zum Thema Holocaust. Was sie nicht erwarteten: Die Geschichten berührten sie so nachhaltig, dass sie ihr Projekt auch nach dem Studium weiterverfolgten – mit großem Erfolg. Seit 2010 haben sich mehr als 100 Ehrenamtliche zusammengefunden, die den Verein unterstützen. Bereits 37 Überlebende sind interviewt und fotografiert worden. Zudem konnten rund 10.000 Kinder und Jugendliche in ganz Deutschland als Zweitzeuginnen und Zweitzeugen geschult werden. Neun Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Teilzeit arbeiten für den Verein. Bei den TalentTagen Ruhr, die noch bis zum 26. September stattfinden, sollen nun weitere junge Zweitzeugen dazukommen – denn in Essen, Dortmund und Haltern am See unterstützt der Verein rund 360 Kinder und Jugendliche darin, sich vertiefend mit der Geschichte des Nationalsozialismus auseinanderzusetzen. Wir haben mit Ruth-Anne Damm, eine der Vorsitzenden und Gründerinnen, über das Erfolgsprojekt gesprochen.

Frau Damm, was ist das Hauptziel Ihres Vereins?
Damm: Wir wollen Kinder und Jugendliche in Deutschland für Antisemitismus und Rassismus sensibilisieren. Dafür erzählen wir ihnen einfühlsam von den Begegnungen und Geschichten der Holocaust-Überlebenden. Unsere Vision ist, dass jeder Mensch in Deutschland zu einem Zweitzeugen wird und aktiv daran mitwirkt, eine offene und vielfältige Gesellschaft zu gestalten, die so ein schreckliches Ereignis wie den Holocaust nie wieder zulässt.

Ruth-Anne Damm aus Essen ist eine der Vorsitzenden und Gründerinnen von ZWEITZEUGEN e.V..

Das klingt nach einer großartigen, aber auch ambitionierten Vision. Wie kann man sich die Zusammenarbeit mit Schulen und Bildungseinrichtungen konkret vorstellen?
Damm: In unseren Bildungsprojekten lernen Kinder ab Klasse 4 Überlebensgeschichten kennen und werden selbst zu Zeugen der 37 interviewten Zeitzeugen – also zu Zweitzeugen. Sie fühlen mit, fragen nach und setzen sich in eigenen Projekten für ein tolerantes Miteinander ein. Das kann im Rahmen eines drei- bis sechsstündigen Workshops geschehen, während einer Projektwoche oder in Schul-AGs. Mit 13 Schulen in NRW haben wir außerdem eine Kooperation, die über drei Jahre läuft. Seit 2019 sind wir auch Träger der freien Jugendhilfe und bieten unsere Projekte ebenfalls an außerschulischen Lernorten wie Jugendtreffs, Gemeinden, in Unternehmen und neuerdings sogar in Lernzentren von Fußball-Bundesligisten an.

Wie gehen denn Zehnjährige mit den Erzählungen über die Schrecken des Holocaust um? Braucht man da nicht ein spezielles pädagogisches Konzept?
Damm: Wir sensibilisieren junge Kinder nur mit persönlichen Überlebens-Geschichten, die für sie nachvollziehbare Anknüpfungspunkte bieten – etwa die damaligen Hobbys, Interessen oder Familienkonstellationen. Viertklässler haben in der Regel ein unglaublich großes Gerechtigkeitsempfinden. Wir erzählen ihnen deshalb gerne Geschichten wie die von Frieda Kliger, die vor dem Zweiten Weltkrieg in Warschau aufgewachsen ist. Zunächst ging Frieda gerne zur Schule, schrieb Einsen und wollte Ärztin werden. Doch dann bekam sie eine neue Lehrerin, die sie diskriminierte, weil Frieda Jüdin ist. Die neue Lehrkraft gab ihr schlechte Noten und Frieda musste wenig später das Gymnasium verlassen. Der Traum, einmal Ärztin zu werden, war geplatzt. Wenn Zehnjährige diese Geschichte hören, fahren sie richtig aus der Haut. Sie empfinden diesen Umgang der Lehrerin als unfair, sprechen über ihre Gefühle der Ausgrenzung und ziehen Parallelen in die heutige Gesellschaft. In Briefen, die sie anschließend an die Holocaust-Überlebenden schreiben können, verarbeiten viele ihre Eindrücke und Gefühle. Genau das macht den Kern von ZWEITZEUGEN aus. Jede Altersgruppe wird alters- und bedarfsgerecht an das Thema herangeführt. Wir arbeiten viel mit Bildern, haben eine tolle Illustratorin aus Berlin und lassen zum Teil auch Audio-Aufnahmen, Briefe und Videos in die Arbeit miteinfließen.

In Briefen, die sie anschließend an die Holocaust-Überlebenden schreiben können, verarbeiten viele Schülerinnen und Schüler ihre Eindrücke und Gefühle.

Ihr Verein entstand vor zehn Jahren als Uniprojekt. Mittlerweile hat er zahlreiche Auszeichnungen erhalten, unter anderem auch von Bundeskanzlerin Angela Merkel. Was war für Sie in den vergangenen Jahren der schönste Moment?
Damm: Die Gespräche mit den Überlebenden sind immer wieder unglaublich berührende Momente. Wir haben Menschen kennengelernt, die sich geschworen haben, nie wieder mit Deutschen zu sprechen. Aber durch unser Projekt ändert sich plötzlich auch ihre Sichtweise. Sie trauen sich, von ihren Erfahrungen und Gefühlen zu sprechen – und erhalten so am Ende sogar regelmäßig Briefe von deutschen Schülerinnen und Schülern, die ihnen ihr Mitgefühl aussprechen. Das bewegt sie sehr. Es ist einfach nur großartig, diesen Menschen, denen so grausame Dinge widerfahren sind, etwas Positives zurückzugeben.

ZWEITZEUGEN ist zum ersten Mal bei den TalentTagen Ruhr der TalentMetropole Ruhr dabei. Warum passt das gut zusammen?
Damm: Viele Engagierte unseres Vereins, so wie auch ich, kommen aus dem Ruhrgebiet, lieben und schätzen diese Region und das Format der TalentTage Ruhr. Für uns ist es ein Talent, sich auf Geschichte einzulassen, gegen das Vergessen zu kämpfen und Demokratie mitgestalten zu wollen. Genau diesen Ansatz wollen wir in diesem Jahr bei den TalentTagen Ruhr umsetzen und rund 360 Jugendliche in Essen, Dortmund und Haltern am See zu Zweitzeugen ausbilden.

Unterstützung

Wer den Verein ZWEITZEUGEN e.V. unterstützen möchte, hat vielfältige Möglichkeiten. Er/Sie kann:

  • Mitglied oder Ehrenamtsmitglied werden.
  • Kooperationspartner/in oder Unterstützer/in werden.
  • spenden.
  • Schulbesuche und Ausstellungen initiieren.
  • als Unternehmen helfen.

Weitere Informationen dazu gibt es auf der Homepage des Vereins.

Ansprechpartnerin für Anfragen zu dem Thema ist Lena Hartmann (l.hartmann@zweitzeugen.de).

Das ZWEITZEUGEN-Team freut sich über ehrenamtliche Helfer.

Gemeinsam mit dem BVB-Lernzentrum stellen Sie während der TalentTage Ruhr am 23. September im Rahmen einer Informationsveranstaltung das neue Kooperationsprojekt „Zweitzeug*innen im Fußball“ vor. Worum geht es da genau?
Damm: Seit August bieten wir gemeinsam mit den Lernzentren der Fußball-Bundesligisten Borussia Dortmund und Borussia Mönchengladbach nahezu wöchentliche, kostenfreie Zweitzeugen-Workshops für Kinder und Jugendliche mit anschließender Stadionführung am Lernort Stadion an. Am 23. September wollen wir diese Kooperation und Arbeit bei einer öffentlichen Veranstaltung in Dortmund vorstellen. Anmeldungen für die Veranstaltung sind noch möglich.

So reagieren die Holocaust-Überlebenden auf die Briefe der Schülerinnen und Schüler

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