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Wenn Chemie erlebbar wird


09. November 2021

Die Gründung der Schülerfirma RCA brachte dem Chemiker Ingo Tausenfreund (links) vor sechs Jahren den begehrten TalentAward Ruhr ein. Den Preis überreichte ihm der damalige Moderator des Initiativkreises Ruhr, Klaus Engel (Mitte). (Foto: TMR)

Am 11. November fand die Verleihung des TalentAward Ruhr 2021 statt. Der von der TalentMetropole Ruhr vergebene Preis zeichnet besonders engagierte LehrerInnen, AusbilderInnen, SozialarbeiterInnen, UnternehmerInnen und Privatpersonen aus, die sich mit innovativen Projekten und Herz und Seele für den Nachwuchs einsetzen. Vor sechs Jahren gewann Talentförderer Prof. Dr. Ingo Tausendfreund die begehrte Trophäe mit der von ihm gegründeten Schülerfirma RCA (RuhrChemAlytic). Mit uns spricht der Chemiker über Selbstverantwortung als Lehransatz, seine neuen Aufgaben an der Westfälischen Hochschule in Recklinghausen und über die Gemeinsamkeiten von Kaffeebechern und Löschschaum.

Ingo Tausendfreund ist gebürtiger Essener und beginnt seine Karriere mit einem Chemiestudium. Er schließt es in Rekordzeit mit Auszeichnung ab und promoviert anschließend in Technischer Chemie über die Entwicklung eines Produktionsverfahrens für hochelastische Verpackungsfolien ohne Weichmacher.  Dann arbeitet Tausendfreund einige Jahre beim Initiativkreis-Mitglied MC-Bauchemie, bevor es ihn schließlich doch in den Schuldienst zieht.

„Ich liebe es, komplexe Sachverhalte anschaulich zu vermitteln“, betont der Chemiker. 2003 übernimmt er am Bochumer Berufskolleg TBS1 die Ausbildung in Instrumenteller Analytik. Der wichtigste Unterschied zur traditionellen chemischen Analytik besteht darin, dass die empfindlichen Analysegeräte viel eher in der Lage sind, unter anderem geringste Spuren an Schwermetallen und anderen Schadstoffen in Proben festzustellen. Mit seiner damaligen Kollegin und heutigen Ehefrau Birgit van den Berg gründet Tausendfreund dann die Schülerfirma, die ihm letztendlich den TalentAward Ruhr beschert. Der Zweck ist ebenso simpel wie innovativ: Er ermöglicht seinen Schülerinnen und Schülern, das Labor der Schule für Arbeits- und Forschungszwecke zu benutzen. Tausendfreund: „Der große Unterschied zwischen der RCA und einer klassischen Ausbildung ist nämlich, dass ein Azubildender, der im Ausbildungslabor etwas analysiert, die Ergebnisse für die Tonne produziert. Bei der RCA kommt es jedoch auf die Analyseergebnisse an, da diese tatsächlich von den Kunden der Schülerfirma gebraucht werden. Das ist für die Schüler äußerst motivierend.“

Hochleistungsflüssigkeitschromatografie - mit diesem Gerät gehen die Studierenden auf Spurensuche in Böden, Trinkwasser und biologischen Proben. (Foto: Initiativkreis Ruhr)

Die anfänglichen Analysen beschränken sich auf Trinkwasseruntersuchungen, da die relativ unkomplizierte Zusammensetzung von Wasser den für die meisten Schüler ersten Umgang mit Analysegeräten vereinfacht. Doch schon bald zählen neben Einzelpersonen, die ihr Leitungswasser auf Blei oder Kupfer untersuchen wollen, auch größere Auftraggeber zu den Kunden. So überwacht die RCA zum Beispiel über viele Jahre die Härte des Brunnenwassers, mit dem das Eis der Gysenberghalle, der Heimat des Eishockeyvereins „Herne Miners“, bereitet wird. Ein anderer Auftraggeber findet sich in der Bochumer Privatbrauerei Moritz Fiege. Hier können die Schüler das Brauwasser untersuchen, die Qualität der Bierwürze kontrollieren und Spurenbestandteile in Jungbier feststellen. Der Stoff Diacetyl, der Bestandteil von natürlichem Butteraroma ist, wird von der Hefe beim Brauvorgang gebildet, ist aber wegen seines intensiven Geschmacks nicht gerne im Bier gesehen. Durch die Analysen von Tausendfreund und seinen Schützlingen konnte der Diacetyl-Gehalt mit moderner Technik genau bestimmt werden, was die Qualitätskontrolle enorm vereinfacht.

Mein Job besteht im Grunde darin, aufkommende Fragen zu beantworten, Wissenslücken zu füllen und mich um die Projekte zu kümmern, die ein wenig Anschub benötigen.

Nebenbei arbeitet der Chemiker an der Westfälischen Hochschule als Lehrbeauftragter, nimmt dann dort im September 2020 eine Professur für Analytische Chemie am Standort Recklinghausen an und leitet seitdem das Labor für Instrumentelle Analytik. Und auch hier macht er das, was ihm wichtig ist: Er lädt Nachwuchswissenschaftler zum Entdecken und Experimentieren ein. Unter dem Namen CIA (Studentische Arbeitsgemeinschaft für Chemische und Instrumentelle Analytik) bekommen jetzt Studierende die Möglichkeit, ganz ohne Leistungs- und Notendruck im Labor zu arbeiten, praktische Erfahrungen zu sammeln, eigene Projekte voranzutreiben oder Teil eines Forschungsteams zu werden. Das Konzept trägt Tausendfreund sogar mit in die TalentTage Ruhr 2021. Und auch hier ist der Kerngedanke, dass die Studierenden viel voneinander lernen, ihre Kompetenzen erweitern und schnell Verantwortung im Labor übernehmen.

 

„Mein Job besteht im Grunde darin, aufkommende Fragen zu beantworten, Wissenslücken zu füllen und mich um die Projekte zu kümmern, die ein wenig Anschub benötigen“, sagt Tausendfreund. „Zwischendurch biete ich immer wieder Schulungen an, in denen es darum geht, die Handhabung unserer hochmodernen Analysengeräte zu vermitteln.“

Mit der Corona-Pandemie kommen dann einige Schwierigkeiten auf die Fachhochschule zu. Viele der Lehrveranstaltungen müssen ins Digitale transferiert werden und vor allem die praktischen Arbeiten im Labor scheinen gefährdet zu sein. Doch die CIA weiß sich zu helfen. „Es ist uns gelungen, auch die Praktika zu digitalisieren. Die Studenten können die Analysen jetzt genauso gut von Zuhause aus durchführen“, freut sich Tausendfreund. „Sie haben die Möglichkeit, auf die Computer im Labor zuzugreifen und steuern so die Instrumente, die teilweise mehrere hunderttausend Euro kosten, ganz bequem vom heimischen Sofa aus. Das ist ein tolles Gefühl!“ Außerdem sei man so nicht mehr auf Laboröffnungszeiten beschränkt.

Der TalentAward Ruhr

Die Auszeichnung zeigt beispielhaft, wie entscheidend die individuelle Förderung für den Bildungsaufstieg ist. Die inhaltlichen Schwerpunkte des TalentAward Ruhr liegen in der erfolgreichen Gestaltung von Bildungsübergängen und auf den Querschnittsthemen der TalentMetropole Ruhr: Vermittlung von Sozialkompetenz, Sprachförderung, Berufs- und Studienorientierung, Persönlichkeitsentwicklung, MINT (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik) sowie Orientierungskompetenz

Am 11. November werden im Live-Stream nicht nur die PreisträgerInnen von 2020 (die Verleihung musste wegen der Corona-Pandemie ausfallen) ausgezeichnet. Der TalentAward Ruhr-Sonderpreis geht zusätzlich an Menschen, die sich in den vergangenen Monaten mit herausragenden Ideen, innovativem Handeln und motivierten Einsatz in der Talentförderung während der Covid-19-Pandemie hervorgetan haben. 

Ein Problem zu lösen bedeutet auch, daran zu wachsen und Erfahrungen zu sammeln, die dabei helfen, neue Aufgaben zu meistern. Ein komplexes undurchsichtiges Problem auf kleinere, lösbare Probleme herunterzubrechen, das ist ein unheimlich wichtiger Lernprozess.

Das spricht auch einen ganz wesentlichen Punkt in Tausendfreunds Mission an: „Ich möchte den Studierenden, wie auch damals den Auszubildenden, Verantwortung übertragen, sie nicht bei jedem Schritt kontrollieren. Wir machen ganz viel über Zielvereinbarungen und ich gestehe den jungen Leuten sehr viele Freiheiten zu, wie sie dieses Ziel erreichen wollen. Es gilt das Prinzip Selbstverantwortung.“ Entsprechende Maßnahmen, wie Sicherheitsunterweisungen und Schulungen im Umgang mit Geräten sowie Gefahrstoffen, sorgen dafür, dass die Studenten Gefahren vermeiden und im Ernstfall wissen, was getan werden muss. Es bleibt natürlich immer ein Restrisiko, für das Tausendfreund die Verantwortung trägt. „Ich möchte vermeiden, dass es so läuft, wie es heutzutage in der Sekundarstufe 1 und 2 leider die Regel ist: Es werden meist keine Versuche mehr gemacht, höchstens ein Video angeschaut und die chemischen Reaktionen an die Tafel geschrieben. Das ist eine sehr traurige Entwicklung. Wenn wir überall das Risiko auf null reduzieren, dann beschneiden wir uns im Kreativbereich. Und wenn es darum geht, junge Menschen für Naturwissenschaften und Technik zu begeistern, dann kann das eigentlich nur über konkretes Erleben von Experimenten möglich sein.“

Ein weiterer Vorteil vom selbstbestimmten Arbeiten sei eine starke Verbesserung des Selbstwertgefühls. „Eine gewisse Frustrationstoleranz ist bei Naturwissenschaftlern unentbehrlich. Fehlschläge sind keine Seltenheit. Doch irgendwann kommt der Punkt, wo es klappt. Und dann ist die Freude über den Erfolg so viel wertvoller, als wenn es direkt beim ersten Versuch gelungen wäre“, erklärt Tausendfreund. „Ein Problem zu lösen bedeutet auch, daran zu wachsen und Erfahrungen zu sammeln, die dabei helfen, neue Aufgaben zu meistern. Ein komplexes undurchsichtiges Problem auf kleinere, lösbare Probleme herunterzubrechen, das ist ein unheimlich wichtiger Lernprozess.“

Mikroplastik findet sich heutzutage fast überall. Im Meer, im Grundwasser und nahezu allen Nahrungsmitteln. Mit der Pyrolyse-GC-MS bestimmen die Studierenden den Gehalt der unerwünschten Partikel. (Foto: Initiativkreis Ruhr)

Dabei hilft dem Wissenschaftler der praktische Anwendungsansatz, den die Fachhochschule ihm bietet. In einem seiner aktuellen Projekte beschäftigen seine CIAler sich mit per- und polyfluorierten Alkylverbindungen, kurz PFAS, in Böden und im Grundwasser. Diese Substanzklasse sorgt dafür, dass Materialien hydrophob, also wasserabweisend, werden. Ob Kaffeebecher, Teflonpfanne oder Löschschaum – die Stoffklasse findet im Alltag viele Anwendungsmöglichkeiten. Das Problem: PFAS werden in der Natur nicht abgebaut und haben sich mittlerweile auch in der Nahrungskette angereichert. Denn auch der Klärschlamm, den viele Landwirte auf ihren Feldern ausbringen, enthält oft PFAS und verunreinigt so den Ackerboden und schließlich das Grundwasser. „Wir versuchen, die PFAS im Boden zu fixieren. Was keine einfache Aufgabe ist, denn es gibt mehr als 5.000 Verbindungen, die dieser Substanzklasse angehören“, erklärt Tausendfreund.

Hochauflösende Massenspektrometrie ist die Königsklasse der modernen Analytik. Tausendfreund bestückt den Laborroboter, der Proben für die Bestimmung von PFAS und anderen Schadstoffen vorbereitet. (Foto: Initiativkreis Ruhr)

Doch da hier Ergebnisse generiert werden, die für die Beseitigung von Umweltschäden eingesetzt werden können, stellen sich seine Studierenden der Studiengänge Chemie und NBCT (Nachhaltige Biologische und Chemische Technologien) hochmotiviert der Herausforderung. Sie lassen sich von Tausendfreund dazu inspirieren, über sich hinauszuwachsen und nicht nur über Klimaschutz und Nachhaltigkeit zu reden und mit dem Finger auf andere zu zeigen, sondern selbst einen aktiven Beitrag für die Erhaltung des Lebensraums zu leisten.

Einer seiner ehemaligen Schüler, mittlerweile selbst Doktor und Laborleiter, schlägt den damals 43-Jährigen für den TalentAward Ruhr vor. Seine Leidenschaft überzeugt auch die Jury. Eine seltene Ehre, denn die meisten Erfolge seiner Arbeit schlagen sich bei seinen Schützlingen nieder. Doch das stört den Chemiker nicht, im Gegenteil: „Es ist toll zu sehen, dass den jungen Menschen in ihrer Ausbildung dann anscheinend so viel an Kompetenzen mitgegeben wurde, dass sie in der Lage waren, diesen langen und harten Weg zu beschreiten. Vor allem bei denjenigen, denen nicht von Anfang an die Eignung für ein Studium bescheinigt worden ist. Diesen jungen Menschen dann die Chance zu geben, sich doch noch entsprechend zu entwickeln, einen spannenden Beruf zu erlernen und einen Werdegang einzuschlagen, der sogar im höchstmöglichen Bildungsabschluss, einer Promotion münden kann, darin sehe ich meine Aufgabe.“

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